Der Künstler und Autor Helmut Pokornig über seine jüngste Publikation Mord und Totschlag in der Josefstadt, 1830-1980.
Der in Wien lebende und arbeitenden bildende Künstler Helmut Pokornig ist nicht nur schon seit langer Zeit ein echter „Josefstädter“: Er betreibt hier auch in der Zeltgasse 11 das kleine, bezaubernde Figurentheater Marijeli und als Ausstellungsgestalter im Bezirksmuseum Josefstadt. Der Begegnung mit dem Museum und dessen visionärer und umtriebiger Leiterin, Maria Ettl, verdankt Helmut Pokornig auch seine erste Begegnung mit den „dunklen Seiten“ des Bezirks. Im Gespräch mit der Lebendigen Lerchenfelder Straße erzählt er, wie es infolgedessen zu seinen umfangreichen Recherchen und dem daraus entstandenen Buch Mord und Totschlag in der Josefstadt kam.
Lebendige Lerchenfelder Straße: Wie bist du mit den historischen Morden in der Josefstadt in Berührung gekommen?
Helmut Pokornig: Die erste Begegnung mit dem Bezirksmuseum Josefstadt war eigentlich über mein Figurentheater, das sich relativ nahe des Museums im achten Bezirk befindet. Die Idee der Museumsleiterin Maria Ettl war, eine kleine Ausstellung über meine Figuren zu machen – daraus ist dann eine richtige „Personale“ geworden: Pinsel, Schere, Stein, Papier hieß die Ausstellung, die 2018 dort gezeigt wurde und sich mit meinen unterschiedlichen künstlerischen Interessen auseinandersetzte. Gleich im Jahr darauf wurde ich dann von Maria Ettl eingeladen, eine Ausstellung über die Gasthäuser und Beisln in der Josefstadt zu gestalten. Im Zuge dessen stieß ich auf einen im Jahr 1928 verübten Mord im heute nicht mehr existierenden Gasthaus von Lorenz Hochmeister in der Blindengasse 8. Damals stritten sich der Tischlergehilfe Ludwig Huttarsch und der bekannte Josefstädter Zuhälter Franz Trakal um eine Frau, die damals 41-jährige Prostituierte Anna Greta, und in der Folge kam es zu einer richtigen Jagd durch Ottakring und die Josefstadt, bei der Huttarsch seinen wesentlich älteren Widersacher vom „Café Schimmerling“ auf dem Gürtel über das „Gasthaus Böse“ in der Thaliastraße und das „Gasthaus Krasnitzky“ in der Nähe der Neulerchenfelder Straße verfolgte. Von dort ging es zum „Café Schimmerling“, zur „Weinhalle Bitzinger“ auf dem Yppenplatz, zur „Weinschank Fröhlich“ in der damaligen Stadtbahnstation „Alser Straße“ und zum gegenüberliegenden „Café Polierer“. Schließlich führte die Verfolgungsjagd zum „Gasthaus Hochmeister“, wo Huttarsch seinen Gegner Trakal mit einigen Schüssen niederstreckte. Diese Geschichte, die so aufregend wie faszinierend ist und die unglaublich viel über die damaligen Gasthäuser, aber auch die gesellschaftliche Situation des Zuhälter- und Prostituiertenwesens jener Zeit erzählt, hat in mir das Interesse geweckt, nach weiteren Morden im Bezirk zu recherchieren und mich mit den jeweiligen historischen und sozialgeschichtlichen Hintergründen zu befassen.
Das heißt, es war speziell der „gutbürgerliche“ Bezirk Josefstadt, der dich in dieser Hinsicht interessiert hat?
Ja, denn „Ottakring und Mord“, das liegt ja irgendwie auf der Hand, möchte man* meinen, aber an „Josefstadt und Mord“ denkt man nicht gleich – und gerade diese ungewöhnliche Verbindung fand und finde ich spannend. Meine Recherchen haben dieses Interesse nur weiter geweckt und bestätigt. Und im Laufe der Zeit haben sich auch eine ganze Menge an Morden gefunden, die sich hier abgespielt haben.
Hast du dir von Beginn der Recherchen an einen zeitlichen Rahmen gesteckt, oder hat sich dieser im Laufe der Arbeit ergeben?
Tatsächlich hat er sich in Hinblick auf die Materialien, die von mir gefunden wurden, ergeben. Der früheste Mord, auf den ich gestoßen bin, fand im Jahr 1830 statt, als ein 24-jähriger Uhrmachergeselle seine Ziehmutter, die damals 75-jährige Elisabeth Arnold, die man auch „die alte Hetzmeisterin“ nannte, weil sie im beliebten „Hetztheater unter den Weißgerbern“ gearbeitet hatte, mit einer Hacke erschlug. Es war ein Mord aus Habgier – einer der vielen Morde, auf die ich gestoßen bin, der aus Habgier begangen wurde – aber es gab auch Morde aus Rache, Wahnsinn, Trunksucht und vor allem natürlich aus Eifersucht.
Für die Zeit davor habe ich nichts gefunden – und mit dem Jahr 1980 habe ich vor allem geendet, um die Täter bzw. auch Familienmitglieder der Opfer zu schützen. In den letzten Geschichten sind daher auch Namen verändert, da nicht auszuschließen ist, dass die Täter bzw. andere in die Mordfälle verwickelte Personen noch leben.
„Es gibt so viele Dinge, die berichtenswert sind – und das nicht nur in der Josefstadt, sondern in jedem Wiener Bezirk.“
Helmut Pokornig
Wo, wie und wie lange hast du für dein Buch recherchiert?
Ein Teil des Materials lag bereits im Bezirksmuseum auf – ein schmaler Ordner mit zirka zehn Fällen –, da das Museum einige Jahre zuvor eine kleine Publikation zu diesem Thema herausgegeben hatte. Mit dieser Mappe hat meine Forschungsarbeit begonnen. Von hier aus bin ich weitergangen und habe in den folgenden Monaten vor allem in der Sammlung „Historische Zeitungen und Zeitschriften“ der Österreichischen Nationalbibliothek ANNO recherchiert. Ohne ANNO wäre eigentlich dieses Buch nie entstanden, diese Datensammlung, dieses für jede*n zugängliche Onlinetool ist nicht hoch genug zu loben. Ein kleine Anekdote am Rande ist vielleicht, dass die Recherche sich dahingehend doch als schwieriger bzw. zeitaufwändiger herausgestellt hat, weil, wenn man nach „Mord“ und „Josefstadt“ sucht, man auf über 1.000 Einträge über Stücke, die mit Mord und Tod zu tun haben, stößt, die alle am Theater in der Josefstadt gespielt wurden, Mord im Orientexpress, um nur ein Beispiel zu nennen.
Ich habe also neun Monate fast täglich im ANNO recherchiert und dabei Tausende von Zeitungsartikeln gelesen. Eine Herausforderung, die dabei zusätzlich entstanden ist, war, dass die Artikel in den Zeitungen und Zeitschriften oft sehr unterschiedliche Varianten der jeweiligen Taten publizierten. Ich musste mich also in fast allen Fällen für eine Version entscheiden, die mir am logischsten erschien. Und um mich dahingehend, wo dies möglich war, noch weiter abzusichern, habe ich auch im Wiener Stadt- und Landesarchiv recherchiert und dort auch eine Reihe von Akten eingesehen, unter anderem jene zum Mordfall Franz Tuvora, der in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1866 fast seine gesamte Familie ausgelöscht hat. Wenn man im Archiv das Original seines Abschiedsbriefes in der Hand hält, schaudert es einem dann doch.
Was auffällt, wenn man das Buch liest, ist, dass du nicht versuchst, aus den Geschichten „deine Geschichte“ zu machen oder einen subjektiv-literarischen Zugang zu finden, sondern dass du sehr distanziert, beobachtend, ja, fast mit einer gewissen „Kälte“ an die zum Teil doch sehr bewegenden und berührenden Mordfälle herangehst.
Ja, dieser sehr sachliche und informative Zugang war mir wichtig, denn die Fälle selbst sind ja schon ungeheuer spannend, und ich wollte so nahe wie möglich an der „Wahrheit“ bleiben und dies – etwa ganz anders als bei meinem aktuellen Buchprojekt – nicht literarisch überformen.
Von einer räumlichen Warte aus betrachtet: Gab es in der ganzen Josefstadt sozusagen gleichmäßig verteilte Mordfälle über die von dir beobachteten 150 Jahre, oder gab es so etwas wie lokale „Kulminationspunkte“, quasi „Hotspots“ auf dem Gebiet des Bezirks?
Es gibt tatsächlich eine Gasse, in der sich besonders viele Mordtaten abgespielt haben: die Strozzigasse. So fand 1868 ein Eifersuchtsmord im Haus „Zum Goldenen Sattel“ in der Strozzigasse 10 statt, im Jahr darauf in der Strozzigasse 21 – das Haus gibt es heute nicht mehr –, bei dem ein Mann seine Frau derart verprügelt hat, dass sie kurz darauf starb, 1901 in der Strozzigasse 18‒20 − auch damals hat ein Mann seine Lebensgefährtin durch mehrere Messerstiche brutal ermordet – und zuletzt 1974 in der Strozzigasse 36, als erneut bei einem Ehestreit von zwei Wirtsleuten eine Frau ihren Mann mit dem Küchenmesser erstach.
Gibt es Aspekte, warum eine Gewalttat bzw. ein Mord begangen wurde, die sich gehäuft haben respektive so etwas wie „zeittypisch“ waren?
In mancher Hinsicht haben sich die Gründe für Gewalttaten bis heute nicht verändert, etwa, wenn es um innerfamiliäre Konflikte oder Eifersucht geht – andere Aspekte, wie etwa wirtschaftliche Not, sind hingegen, zumindest für lange Zeit, in den Hintergrund gerückt. So gab es unter den von mir recherchierten Fällen eine Reihe von Frauen, die aus wirtschaftlicher Not ihre Kinder ermordet haben, und Männer wie den bereits erwähnten Tuvora, die aufgrund wirtschaftlicher Zwänge bzw. einem Schamgefühl, beruflich gescheitert zu sein, ihre ganze Familie mit in den Tod nahmen. Das Thema Eifersucht hingegen ist heute noch immer so brisant wie in den historischen Fällen, war aber interessanterweise bei meinen Recherchen nicht das dominierende Mordmotiv.
Für jede Leserin, für jeden Leser gibt es in deinem Buch vermutlich Mordfälle, die eine*n länger nicht loslassen, gab es das auch für dich bei deinen Recherchen?
Ja, tatsächlich war für mich der Tuvora-Mord der schlimmste: ein Mann, der mit seinem Unternehmen pleite gegangen ist und aus Scham darüber einen minutiös durchgeplanten Mord an seiner gesamten Familie begeht, seine Frau, zwei seiner Söhne und seine Tochter ermordet – auch wenn durch einen schicksalhaft glücklichen Zufall zwei seiner Söhne die Tat letztendlich überlebten.
Wie viele Fälle hast du insgesamt im Buch versammelt?
Im Buch habe ich 40 Fälle versammelt, insgesamt habe ich sicher um die 80 Fälle aufgearbeitet. Die Fälle, die ich ausgewählt habe, stehen also stellvertretend für ein zirka doppelt so hohe Gesamtzahl, wobei sich manche Aspekte – etwa das Thema Kindsmord, das oft eng mit dem Aspekt der finanziellen Not einherging – mehrmals wiederholt haben, was für mich überraschend war. Ich habe mich letztendlich aber dagegen entschieden, alle Morde an Kindern, über die ich gestoßen bin, darzulegen.
„Für das historische Recherchieren habe ich im Laufe dieses Projektes wirklich Feuer gefangen.“
Helmut Pokornig
Die erste Auflage deines Buches ist bereits vergriffen, und das, obwohl aufgrund des Pandemieausbruchs fast alle deine Lesungen abgesagt werden mussten.
Es wird eine zweite Auflage geben, worüber ich mich sehr freue. Und für den Herbst dieses Jahres planen wir eine Reihe von Führungen durch die Josefstadt, die sich thematisch an den von mir beschriebenen Morden entlangbewegen werden. Gudrun Tielsch ist Fremdenführerin und kam über die Lektüre meines Buches auf die Idee, diese Führungen zu konzipieren und auszuarbeiten. Sie wird dabei auch das das Landesgericht thematisieren, in dem, vor allem während des Nationalsozialismus, zahlreiche weitere Morde begangen wurden. Die über 1.300 Hinrichtungen durch die Nationalsozialisten hätten eine ganz neue Dimension des instrumentalisierten Mordes eröffnet, die weit über den im Buch behandelten privaten Bereich hinausreicht. Weshalb diese Fälle, so traurig jeder einzelne von ihnen auch ist, in meinem Buch auch keine Erwähnung finden– wobei der von mir geschilderte Mordfall Hugo Bettauer aus dem Jahr 1925 die Geschichte des damals bereits stark präsenten Nationalsozialismus in Österreich aufgreift.
Was mich auch sehr freut, ist, dass Webdesigner Bernd Kantoks, dem mein Buch gefallen hat vorgeschlagen wurde eine kleine Website zu gestalten, auf der der Bezirk abgebildet ist und an den jeweiligen Schauplätzen jene Morde, die in meinem Buch vorkommen, mit kurzen Texten vorgestellt werden.
Und besonders gefreut hat mich schließlich auch, dass die meisten Leserinnen und Leser aus dem Bezirk selbst kommen – und ich diesen durch zahlreiche Lieferungen meines eigenen Buches noch besser kennen lernen durfte. Denn da es durch den Lockdown keinen funktionierenden Vertrieb für das Buch gab, bin ich selbst zu den Menschen gefahren, die das Buch bestellt hatten – und habe es persönlich vor deren Tür gelegt.
Gehst du heute anders durch „deinen“ Bezirk?
Ja. Wenn ich an einer Adresse vorbeigehe, an der sich ein von mir recherchierter Mord abgespielt hat, dann schau ich hinauf zu den Fenstern der Wohnungen und denke an die Menschen, die dort gewohnt haben. Da hat einmal dieser oder jener Mensch gewohnt und hatte dieses oder jenes Schicksal. Man geht doch mit einem anderen Gefühl im Hinterkopf spazieren – und das nicht nur ich, sondern zum Beispiel auch meine beiden Töchter, die das Buch sehr genau und mit sehr kritischem Blick immer wieder in den unterschiedlichen Stadien seines Entstehens gelesen haben.
Einen Leseauszug aus dem Buch findet sich hier:
lerchenfelderstrasse.at/der-schneidergehilfe/
Buchinfos:
Helmut Pokornig: Mord und Totschlag in der Josefstadt. Wien: Jatiki 2020, 160 Seiten, 18 Euro
Weiterführende Links:
www.jatiki.at
www.marijeli.at
anno.onb.ac.at
www.mordundtotschlag.at
Zur aktuellen Ausstellung im Bezirksmuseum Josefstadt siehe:
www.bezirksmuseum.at/de/bezirksmuseum_8/ausstellungen/