von Helmut Pokornig
Juli 1874. Stolzenthalergasse 6
„Die Zeiten sind schlecht“, raunt Wenzel Kuna. „Der Zinstermin steht vor der Tür.“ Kuna macht sich auf den Weg, um etwas zu trinken. „Ein Glas Bier“, sagt er zu seinem Nachbarn, „sonst muss ich immerzu an mein Elend denken“. Der 45-jährige böhmische Schneidergehilfe verlässt seine kleine Wohnung, es zieht ihn in die Lerchenfelder Straße, wo er den Nachmittag in einer Kaffeeschänke verbringt.
Abends gegen halb sieben Uhr kehrt er betrunken zurück. Bereits auf dem Gang hört er seine Frau Anna Brennholz hacken. Die beiden sind seit fünf Jahren verheiratet. Immer wieder wirft er Anna vor, ihm nicht treu zu sein. Auch heute redet er sich wieder eifersüchtig in Rage. „Ich bring dich und deinen Wechselbalg um!“, schreit er, entreißt ihr die Hacke und droht, sie damit zu erschlagen. Anna Kuna ruft laut um Hilfe. Die Hausbesorgerin und die nebenan wohnende Nachbarin eilen zu ihr. Es gelingt ihnen, Kuna die Hacke zu entreißen. Er schlägt mit den Fäusten auf die Frauen ein. Johann, der zweijährige Sohn des Ehepaares, klammert sich verängstigt an seine Mutter. Kuna reißt ihn los, stößt die Frauen in den Gang und versperrt die Tür zur Wohnung. Er sticht sich mit seinem Taschenmesser in die Brust, tritt an das offene Fenster und schleudert das weinende Kleinkind aus dem dritten Stock. Wenige Sekunden darauf stürzt sich der Schneidergehilfe ebenfalls auf die Gasse. Menschen eilen herbei und versuchen, den am Boden Liegenden Hilfe zu leisten. Das Kind wird mit Gehirnerschütterung, Kieferbruch und gebrochenen Rippen von Anwohnern in das Haus gebracht. Kuna hat sich eine Kopfwunde zugezogen und den linken Fuß gebrochen. Er wird in den Hofraum getragen und auf einen Strohsack gelegt. Der aus der Lerchenfelder Straße herbeigeholte Wundarzt Johann Dollmayer legt ihm kalte Umschläge auf. Kuna beschimpft während der ganzen Zeit seine Gattin. Die Umstehenden sind empört. Eine große Menschenmenge versammelt sich, die ihren Unmut über den lieblosen Vater äußert. Die Wachebeamten ordnen an, das Haustor sicherheitshalber zu verschließen. Mit Tragbahren werden Vater und Kind in das Allgemeine Krankenhaus gebracht. Der kleine Johann kann nicht mehr gerettet werden und stirbt noch vor Mitternacht desselben Tages. Sein Vater erliegt ein halbes Jahr später im Inquisitenspital den Verletzungen, die er sich an jenem Samstagabend zugezogen hat.
Man sagt, Wenzel Kuna habe sich in seinem Krankenbett immer wieder aufgesetzt, die Hände gefaltet und um Entschuldigung gefleht.
Aus: Helmut Pokornig: Mord und Totschlag in der Josefstadt. Wien: Jatiki 2020, S. 34ff.
Ein Interview mit dem Autor über das Buch finden Sie hier:
lerchenfelderstrasse.at/interview-helmut-pokornig-2021/