Lerchenfeld, literarisch: Ein Gang in die Nacht (Text)

Von Theodora Bauer

Wie sich die Städte gleichen, wenn man im Abendlicht hindurchspaziert
Wie sich aber doch die Zeiten überlagern, wenn man in Wien geht
Motive, Motive
Laubgesäumte Fältungen der Zeit
Man wird mich wiedererkennen
Wie ich sie aneinanderpresse
Durch die spiegelnden Jahre zurückblicke
In regenbogentoll gebrochenes Licht

Ich breche zu spät auf, wieder einmal. Aus dem Haus, noch schönes Licht. Man hat Gnade mit mir: lange schönes Licht.

Ich denke an die Kirche, den kleinen, seltsamen Park davor. An diese Kreuzung. Ich denke an das Café Anno. An kühne, ewig dauernde Gänge durch die Nacht. In der Tat eine meiner handfestesten Erinnerungen an diese Zeit: endlose, fest entschlossene Gänge durch die Nacht.

Das Café Anno. Keimzelle, nein, vielmehr: Labor früher Experimente, Entwicklungen, Stählungen. Anlesen gegen Lärm und gegen die Überschaubarkeit des Publikums. Ich erinnere mich an eine Lesung im Frühsommer 2010: Das Anno hatte zwischen hinterem Bereich und Bar noch keine Tür, nur einen Vorhang. Außerdem Rauch in der Luft, wie überall. Meine Lesung begann, der Vorhang wurde zugezogen. Ich freute mich, dass Leute gekommen waren. Setzte an zum Lesen, ein paar Minuten lang ging das gut. Dann: Ungeheures Getöse. Schreien. Gejohle von der Bar. Das WM-Spiel, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es auf dem Plan stand, hatte angefangen. Ich gab nicht auf und las weiter. Wie gesagt: Stählungen, Situationen und der Umgang damit. Liebevoll erinnere ich mich an die Inschriften und Sticker am Klo, die mit gewisser Kunstfertigkeit und einem Sinn für ästhetisches Zusammenwirken angebracht worden waren. Gesamtkunstwerk. Außerdem: die Plakate an den Wänden, das dunkle Holz, diese Schreibtischlampe und die darbenden Pflanzen auf den Simsen.

Ich habe mir vorgenommen: auf einer Seite die Lerchenfelder Straße hinauf, auf der anderen hinunter. Dazwischen was essen. Vorher auf Google recherchiert, es gibt herrliche Orte, den Bewertungen nach zu urteilen. Ich entscheide mich für ein Café, Gastgarten, Anfang November. Unerschrocken und mit Decke über den Beinen schaue ich auf die Straße. Autos Autos Autos, alle fünf Minuten fährt die Straßenbahn bei mir vor. Ich sitze da wie die Ticketkontrolle bei einem Event. Würde ich von meinem Sessel aufstehen und den Tisch wegschieben, dann könnte ich geradewegs einsteigen, es sind bloß ein paar Meter. Jedes Mal ein ganzer Zug Menschen, eine hellerleuchtet vorbeiziehende Fensterfront.

Werden tut es ein Gang in die Nacht, bergan. Die Straßenseite wechselnd. Ich auf meinem Menschenausguck schlage entschieden in die Tasten. Man betrachtet mich, ich spüre die Blicke. Ich muss wie etwas aussehen, das sein soll: eine hübsche junge Frau, die Baskenmütze schräg über dem Kopf in Form gezupft, mit ernstem, jedoch nicht bedrohlichem Gesicht. Friedlich werkend, als stünde ich ein für die Idee des Schreibens an sich. Für die romantisierte Version: Darstellung des Schreibens vor wechselndem Publikum. Der Kaffee wird gebracht, ein appetitlich aussehender Apfelkuchen landet wegen Platzmangels auf dem Nebentisch. Einfallende Abendstimmung. Ich bin auch das Gegenteil gewohnt: sein, wo und wie ich nicht sein sollte, den Blicken trotzen, manchmal mit performativer Vorhandenheit. Mein Ding machen, etwas anders sein, den Raum um mich herum beugen, bis er passt. Beste Verteidigung vorwärts. Nun also ein Bild neiderregender Perfektion vor diesem Café an einem frischen Herbstabend: So sitzt man richtig da und schreibt einen Text.

War es Halloween? Nein, daran hätte ich mich erinnert. Die Schlange vor dem Loft: unendliche Längen, meine Freundinnen schon drinnen. Unmöglich hineinzukommen. Ich rief an, niemand hob ab. Wieder, wieder. Draußen Sturm, nicht übertrieben, das war kein Wind mehr, der Himmel kam nieder, auf die Weise, vor der sich Asterix gefürchtet hatte. Ich in melodramatischer Stimmung, die Welt uneins mit mir, mir übel mitspielend – passende Kulisse, ein krachender Sturm. In diesem widernatürlichen Tosen wandte ich mich die Lerchenfelder Straße hinunter, kaum eins in der Nacht, und ging. Ich sah die Kameras mitschwenken, Sex and the City, nein, etwas Herzzerreißenderes, es hatte keine Larmoyanz. Ich war froh, dass Gott mich respektierte. Der Sturm wurde stärker. Tränen passten, ich beweinte mich und das mir vorenthaltene Geschehen im Loft. Ein Blumenkasten fiel aus großer Höhe, stürzende Erde, ein Bröseln. Was für eine Möglichkeit! Bis auf die Fahrbahn. Ich war eine Laune und die Welt mit mir, hatte sich meinem Treiben gefügt, zischte und brauste, fuhr mir ins Haar. Auf halber Höhe hatte ich mich mit meinem Schicksal versöhnt, ach, so eine Intensität zu erleben, auch von innen heraus, ein Abend im Loft nichts dagegen. Alles war sehr exaltiert, ich eine Erscheinung, um die die ganze Welt sich mit tosendem Respektabstand bog.

Vielleicht war es auch die Josefstädter Straße.

Ein lädierter Blumenstrauß auf dem Fliesenboden eines Geschäfts, der die gleiche Energie ausstrahlt wie ein rabiater kleiner Hund, dessen Wege man nicht kreuzen will. Verschlungene Baustellen. Die Erkenntnis, dass ich diesen Teil der Neubaugasse noch nie begangen habe. Wunderbare kleine Türmchen, deren Sinnhaftigkeit sich mir auch nach längerer Betrachtung nicht erschließt. Gegen das Licht der untergehenden Sonne sehe ich eine Holztreppe oder Leiter in einem von ihnen. Ich frage mich, ob dort jemand morgens (wahrscheinlich morgens) die Glocke läutet und wenn ja, wofür.

Ein schöner, früher Winterabend in New York. Habe ich darüber schon geschrieben? Ich kam aus dem Chelsea Market, einem hübsch ausgestalteten Gebäude, das Reisende und Einheimische gleichermaßen anzog. Es muss in etwa fünf gewesen sein, als ich vor die Türe trat. Ein von innen heraus erleuchtetes, blau-orangenes Wölkchen hing im Himmel, war einfach da, ohne zu dräuen. Ich schnupperte. Winterstimmung. Ich erinnere mich, dass ich morgens eine Notfall-SMS bekommen hatte, eine Warnung bezüglich eines snow squalls. Noch kein Flocken Schnee auf der Straße, und fast schon finster. Was war ein squall? Und einer, der aus Schnee bestand? Ich ging, gesättigt von den Eindrücken des Tages, vom Chelsea Market aus Richtung Midtown. Ging, wenn meine Erinnerung stimmt, an diesem prächtigen CVS vorbei, der in eine ehemalige Bankfiliale mit Stuckdecke gebaut war, was beim Einkauf verschiedenster Drogerieartikel für sonderbar erhabene Gefühle sorgte. Während ich dergestalt spazierte, änderte sich binnen kürzester Zeit die Stimmung. Die Wolke begann zu drängen, ich spürte, dass etwas in der Luft lag, das heraus musste. Ein Warten, aber eher ein freudiges. Plötzlich, und ich schwöre, anders ist es nicht zu beschreiben: öffnete sich die Wolke und ergoss einen Schwall Schnee auf die Straße. In einem anderen Text hätte man geschrieben: Die Wolke habe sich übergeben. Aber nicht hier. Eine unsagbare Fröhlichkeit breitete sich über alles hin: In dichtem, weichem Strahl floss Schnee auf den Asphalt. Kaum hundert Meter war ich also gegangen, nun war alles weiß, schon mehrere Zentimeter, und wurde immer weißer. Noch nie hatte ich soetwas gesehen.

Jetzt sitze ich hier in diesem Café und denke an New York.

Als ich weitergehe, eile ich. Eisiges Schreiben im Herbst oder Winter. Der Abend hat mir seine schönste Seite gezeigt, ich ziehe am Anno vorüber, dessen Fenster beunruhigenderweise dunkel sind. Was, wenn es zugesperrt hat? So lange war ich nicht hier. Auf goldenem Papier – golden sieht es aus in diesem Licht – die Warnung, dass man beim Rauchen vorm Lokal doch freundlicherweise an die Anrainer denken möge. Ein leises Lächeln im Gesicht. Es scheint: Alles ist gut, nach wie vor.

Eine Wohnungsparty. Der Besitzer ist zwei Meter groß, ich muss mir den Kopf verdrehen, wenn ich seinen Reden lauschen will. Es geht um Palästina und Israel. Freundlich spricht er aus den Rauchwolken herab, keineswegs überheblich. Ich versuche, den Kopf zu neigen und ihn aus den Augenwinkeln zu betrachten. Auch diese Position schmerzt. Eine Menge munterer Studenten und Studentinnen, ich leicht dissoziiert, bloß die Freundin einer Freundin, weit weg eigentlich. Meine Erinnerung umfasst dieses Genickweh und die Verhärmung darüber, weil es eigentlich ein spannendes Gespräch war, auf das ich mich gerne konzentriert hätte. Ob mich die Fantasie nach einem Sessel oder einem Hocker umgetrieben hat, auf den ich hätte steigen können, um diese lästige Perspektive loszuwerden?

Auf jeden Fall ein Buch ausgeborgt und noch immer nicht zurückgegeben.

Es muss in der Lerchenfelder Straße gewesen sein: Auch jetzt wieder, ich erinnere mich an diese ungeheuer langen Gänge, die sich hinter den ornamentbesetzten Toren öffnen. Für mich eine wahnsinnige Besonderheit, unheimlich und gleichzeitig erhaben, sich ewig hinziehend. Sog bis zu einem mattdunklen Loch in der Ferne. Promenadenartige Hauseingänge, die Höfe aneinandergereiht, man schreitet bis zur betreffenden Stiege wie zum Altar oder als wäre man auf dem Weg zum Schafott.

Vor mir öffnet sich der Platz zum Gürtel hin. Schienen kreuz und quer. Ein beständiges Leuchten, Übergänge, Enden und Anfänge. Ich biege ab, nach rechts, meine Straßenbahn fährt die Josefstädter Straße hinunter. Ich denke an die Gebäude, dieses beeindruckend hässliche mit den von dunklen Schlieren überzogenen Betonvorsprüngen, dasjenige mit der wunderschönen Fassade und den noch schöneren Toren. An die große Menge an Frisiersalons, an Pizza, Burger und Kaffee. Ich quetsche die Erinnerungen früher Tage aus meinen Hirnwindungen: Die sich gemischt haben mit einem allgemeinen Lebensgefühl des damaligen Wien, damals in meiner eigenen Zeitrechnung. Ich erst neu hier, auf dem Weg in den Literaturbetrieb, auf dem Weg durch Texte und Institutionen, und immer wieder auf dem Weg vom Anno die Lerchenfelder Straße hinunter

mit kühnem Herzen in die Nacht.


Theodora Bauer, geboren 1990 in Wien, studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (Mag.) sowie Philosophie (BA) an der Universität Wien. Ihr vielbeachteter Debütroman Das Fell der Tante Meri erschien 2014, 2017 folgte ihr zweiter erfolgreicher Roman, Chikago; dessen Manuskript sie 2016 beim Bachmann Preis vorgestellt hatte; seit 2016 schreibt sie daneben auch Theaterstücke, seit mehreren Jahren moderiert sie die literaTOUR auf ServusTV. Zu ihren Preisen zählt der Anerkennungspreis der Burgenlandstiftung Theodor Kery (2018) und das Dramatiker:innenstipendium des Bundes (2018). der Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien (2019) sowie zuletzt ein Projektstipendium des Bundes wie auch der rotahorn-Literaturpreis 2022. 2022 war Theodora Bauer Writer in Residence und Gastdozentin an der BGSU (Bowling Green State University) in Ohio.

© Porträtfoto: Paul Feuersänger



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