Lerchenfeld, literarisch: Das Jetzt und das Einmal – I couldn’t play (Text)

Erzählung. Von Martin Prinz

Michael wartete am Gürtel im Wind. Die Fußgängerampel war rot. Die Wägen bretterten in knappen Abständen über die Fahrbahnen. Der Impuls, der vertraute, jetzt umzudrehen, sich den halben Tag in irgendeinem Vorstadt-Espresso zu verstecken, anstatt ins Studio zu gehen, die Musicbox zu füttern, Bier zu trinken und alte Zeitungen und Magazine zu lesen, war nur zu vertraut. Am stärksten packte es ihn, wenn die Ampel grün war. Die Autos standen still, der größte Lärm war weg, und schon wurde es ihm wieder zu viel.

Max hatte ihm Freitag geschrieben, er habe mit dem bisher aufgenommenen Material genug zu tun, Michael solle sich ein paar Tage Zeit nehmen. Max meinte es gut. Deshalb schrieb er auch keine Songs. Max hatte andere Qualitäten. Er erkannte Songs lange vor den anderen. Max fand ihr Inneres wie ein Schlafwandler. Lügen konnte er nicht.

In Wirklichkeit hatten sie nichts. Was bisher eingespielt wurde, brauchte keinerlei Bearbeitung, konnte nur weggeschmissen werden. Jede Idee, jeder Ansatz einer Akkordfolge oder eines Textfetzens war alt und zumindest einmal verwendet. Wenn er ehrlich war und an die letzte Platte dachte, die ihn bald nach der Tour wieder ins Studio gejagt hatte, musste er zugeben: öfter als einmal verwendet.

Bereits vor dem Wochenende hatte Michael deshalb beschlossen, die ganze Studio-Woche abzusagen. Nun überquerte er die Lerchenfelder Straße, steuerte den Würstelstand am Eck der Kirche an und pfiff vor sich hin. Eine Wurst, ein Bier, sogar ein sinnloser Studiotag fiel jetzt nicht mehr ins Gewicht. Die Sonne strahlte durch die blattlosen Baumkronen, Michael wusste genau, welche Melodie er gerade in Halbtakten pfiff. Nicht wieder Wilco, würde Max sagen: „Wilco kostet dich noch Kopf und Kragen!“

Max hatte Recht. Auch wenn er es augenzwinkernd sagte, und in bewusster Übertreibung. Michael wusste nur zu gut, dass die von den Kritikern so überschwänglich attestierte Nähe der letzten beiden Alben zur Arbeit Jeff Tweedys in Wirklichkeit alle seine Songs betraf. Selbst zu Zeiten, da es Wilco noch gar nicht gegeben hatte, waren seine, Michaels, Songs immer schon Jeff-Tweedy-Stücke gewesen. Irgendwann würden das alle sehen, alle hören. Er sah es voraus, doch je mehr er sich dagegen stemmte, desto größer war die Angst vor der Aufdeckung geworden.

Michael biss in die Burenwurst, lehnte am Würstelstand, sah sich um. Neben ihm zwei Bauarbeiter. In solchen Augenblicken fühlte er sich einem wie ihnen stets zugehöriger als Männern mit Brillen und Bärten. In Wirklichkeit hatte er von Arbeit, Alltag und Leben eines Arbeiters keine Ahnung.

Michaels Studio lag nicht weit von hier. Als er es vor zwanzig Jahren angemietet hatte, war der Mietzins in dem bis heute schäbigen Teil des sonst gutbürgerlichen Bezirks weit unter der Norm gelegen. Trotz Gentrifizierung hatte sich über die Jahre für ihn wenig geändert. Seitdem der Sohn des alten Besitzers die Verwaltung der Immobilien übernommen hatte, erließ er Künstlern wie Michael zumindest die Richtwerterhöhungen, solange ihm als Ausgleich dafür etwa Zutritt zum Backstage-Bereich eines Konzerts oder Ähnliches gewährt wurde. Das sei für ihn unvergleichlich, frohlockte der Besitzer einer ganzer Handvoll an Häuser jedes Mal wieder.

Damit blieb es Michael erst recht unmöglich, dem Stadtteil zu entkommen. Es war einfach zu billig. Selbst in den Außenbezirken wurde mittlerweile das doppelte verlangt. Er musste lediglich die großen, faszinierten Augen aushalten, mit denen der Hausbesitzer nach den Konzerten zielstrebig irgendeinen der Kunst- oder Kulturpromis im Oberschoß der Arena oder sonst einer Konzerthalle in Beschlag nahm. Eine Zwangsbeglückung, die nicht wenigen ebenfalls zu einem neuen Obdach verholfen hatte.

So sehr die meisten auf ihn herabschauten, manche ihn regelrecht verachteten, löste sich jedwede Arroganz gegenüber dem Vermögenden allzu schnell auf, sobald der junge Betriebswirtschaftsmagister nur eine erste Andeutung über die Möglichkeit von Kulanzpreisen in der einen oder anderen seiner Wohnungen machte. Tatsächlich hatten sich seine Häuser auf diese Weise innerhalb weniger Jahre mit Malerinnen und Malern, Filmemachern, Regisseurinnen, aber auch Radio- und Fernsehmenschen gefüllt, sodass er selbst im versifftesten Backstage mittlerweile längst nicht nur die biedere Randfigur war.

Michael nickte den Bauarbeitern zu, zahlte und hatte am Weg ins Studio zum ersten Mal seit langer, sehr langer Zeit keine Scheu davor, dass irgendeiner jener Blicke, in denen er sich hier öfter als in anderen Teilen der Stadt als Bandleader Micha Kalt erkannt fühlte, ihn dort ertappte, wo es um mehr als vermeintliche Jeff-Tweedy-Nachahmungstäterschaft oder sein Doppelleben mithilfe von Tinder, Facebook oder Bang-with-your-friends ging, nämlich um ihn selbst.

Michael pfiff und Max würde fassungslos sein. Nicht wegen der Diagnose. Davon musste er Dorothée zuerst erzählen. Nein, kein Wort würde er ihm sagen. Damit Max alles klar sein würde, reichte es, am Ohrwurm festzuhalten: „Windows broken and dreaming/So happy to leave what was my home …“

Anna-Mia hatte ihm geschrieben: „bald“ – für heute Abend reichte das nicht. Auch auf Tinder oder in den FB-Chats wartete niemand. Trotzdem schrieb er Dorothée etwas über ein Treffen mit Niki, das spät werden könne. Natürlich stimmte das nicht. Er tat es, obwohl ihn Niki letzte Woche so aufgeregt per SMS gefragt hatte, wie lange er ihn schon als Alibi benutze und warum er ihm das um Himmels willen nicht sage. Er tat es genau deswegen. Nikis Name war zur Chiffre geworden. Chiffre vor allem für ihn selbst.

Die Sonne blitzte zwischen den Häusern, heute Abend würde er unterwegs sein. „With a sky blue sky/This rotten time/Wouldn’t seem so bad to me now …“, die Stimme Tweedys, wie sehr er sie liebte. Ihre Sachtheit klang wie ein tastender Geist. Dahinter ein Name. Elsa. Ihr Name und ein Leben. Welches, wusste er nicht. Nicht von ihr, nicht von sich selbst.

***

„Die Gitarre“, sagte er zu Max. „Gitarre und Stimme: auf einer Spur.“ Max wusste Bescheid. Michael sah ihn zu den Reglern gehen und wusste, er durfte ihn jetzt nicht ansehen. Er warf die Lederjacke ins Eck, spürte Gänsehaut. Vielleicht war es das letzte Mal.
„Schalt gleich ein“, gab er Max über das Mikro hinaus, atmete kurz durch, hörte den Atem in den Kopfhörern, den Atem allein, als wäre sonst nichts übrig geblieben. Die Gitarre, er schloss die Augen. Früher hatte er in dem Augenblick an jemand gedacht, für den er sang. An einen Jugendfreund, die Schwester, an Affären, nie an Dorothée, nicht einmal in Zeiten, in denen er sich ohne sie nichts vorstellen hatte können, kein Aufstehen, kein Einschlafen, keinen Atem, nichts. Er drehte sich vom Glasfenster weg, setzte sich auf den Hocker. Diesmal für Dorothée. Er spürte den Takt im rechten Fuß, das Wogen des Lieds, wie Herbstwind, dachte er sich, während er den ersten Akkord strich, den Rhythmus mit den Schuhsohlen klopfend, das Mikro direkt vor den Lippen, zupfte das Intro und begann zu singen: „Oh the band marched on in formation/The brass was playing tunes I couldn’t play …“

Am Ende Stille. Der letzte Akkord, langsam gestrichen, eine Stufe höher als der erste, eine Öffnung. Der Atem, den die Aufnahme jetzt brauchte, ragte länger als im Originalüber die Töne hinaus. Er wusste genau, wie und wann Max die Regler hinunter führte, er musste nicht hinsehen, hielt die Augen geschlossen.
Vielleicht sollte es das jetzt sein, sein letztes Mal hier. Kein Wort von Max. Trotzdem bei Michael ein Gefühl, wie sonst nur auf der Bühne, wenn sich der Freund umständlich den Bass abschnallte, um als Erster zu verschwinden. Dabei verlangte das Lied ohnedies nach einem Stehbass.
Er spürte, dass Max ihn ansah, drehte sich zum Mischpultfenster, nickte ihm zu. Sie sahen sich einen Augenblick an, dann sagte Max leise zu ihm herein: „Statusmeldung Songbook.“
Michael wollte den Kopf schütteln, doch Max fügte hinzu: „bleib“ ‒ und öffnete erneut die Regler: „Als nächstes ein Cover vom Cover … du summst es schon die ganze letzte Woche …“
Es war verrückt, doch Michael blieb, drehte sich um. Nur die Augen schloss er diesmal nicht: „They sat together in the park/As the evening sky grew dark …“

***

Mit dem zweiten Lied war Elsa überall gewesen. Michael klappte den Gitarrenkoffer zu. Es fühlte sich wie eine Entscheidung an. Er trat auf die nächtliche Straße, wunderte sich nicht, wie schnell es über die Aufnahmen dunkel geworden war, wunderte sich nicht, dass er wie früher den Gitarrenkoffer dabei hatte. Nicht einmal an die längst selbstverständlich gewordene Angst, den Koffer in irgendeinem Lokal stehen zu lassen, verschwendete er einen Gedanken. So gut fühlte es sich an. Das Leder schlug beim Gehen an seine Beine, das war der Takt und am wenigsten wunderte er sich über Elsa.

Wie von selbst war es gegangen. Das Lied, ihr Name und seine Stimme, von der er noch im Singen fest angenommen hatte, sie klänge nun endgültig wie jene von Jeff Tweedy. Genauer gesagt, jene der Dylan-Interpretationen Jeff Tweedys. Max hatte nur gegrinst und Michael gezwungen, wenigstens kurz ins Material hineinzuhorchen. In ein Singen, das weder nach Jeff Tweedy klang noch nach Micha Kalt und vielleicht gar kein Singen war, sondern eine Erinnerung, die nicht einmal einen Namen bräuchte und ihn dennoch trug.

Elsa hieß es darin, und ohne jedes weitere Wort, jeden Gedanken wie Zweifel, waren alle Fragen damit beantwortet. Mit zwanzig Jahren Verspätung hatten sie letzten Herbst ihre Affäre begonnen. Auf wenige Hotelstunden reduzierte Treffen, unverdächtig nachmittags, so gut wie ohne zu reden, ohne dass all dem ein Flirt oder eine Verliebtheit vorangegangen wäre. Als etwas, das, wie sie glaubten, jederzeit zu beenden wäre, so waren sie aufgrund ihrer Vernunft und jeweiligen Lebenswirklichkeit, sicher gewesen. Keine Frage, dass sie ebenso verhüteten wie aufpassten, nicht doch ihr Herz zu verlieren. Blind in derartige Fehler zu stolpern, dafür waren sie zu alt.

Dementsprechend abgeklärt auch ihre Übereinstimmung, dass jedes Mal im Grunde ein letztes Mal sei. Dass es keinen Abschied und schon gar keine Erklärung für das Ausbleiben weiterer Treffen bräuchte. Unter dieser Bedingung hatte jede ihrer Begegnungen gestanden, für nicht einmal drei Monate, in der jeder Augenblick, jede Bewegung ebenso selbstverständlich gewesen war, wie die Tatsache, dass sie seit dem Winter kein Wort mehr voneinander gehört hatten.

Sie hatte ihr Leben, er seines. Die bloße Andeutung, ihres implodiere gerade, hatte zu Jahreswechsel genügt, um nicht weiter nachzufragen. Sobald könne es, wie sie schrieb, kein nächstes Treffen mehr geben, sie melde sich, wann immer das sei. Mehr könne sie nicht sagen. Ihm war das nur zu bewusst. Keinen Augenblick lang hatte er über Notwendigkeit wie Ende dieser Begegnung je Zweifel gehabt. Auch jetzt nicht, da er feststellte, wie klein in seinem Leben alles geworden war, inmitten einer Leere, die offensichtlich aus der Verdrängung dessen bestand, dass er jeden Tag seit letztem Winter an Elsa gedacht hatte, dass es schon seit der ersten Berührung im Herbst nicht anders gewesen war. Er vermisste sie, doch dahinter stand so viel mehr, dass nicht einmal das Versteck seiner Diagnose etwas half. Im Gegenteil, es macht ihm umso deutlicher, dass es um ihn selbst ging, so sehr er auch an sie dachte. In Wirklichkeit ohne Unterlass seit dem ersten, online gewechselten, Wort, seit der so genannten Freundschaftsanfrage ‒ und das all die Jahre, eigentlich Jahrzehnte, nachdem sie einander zum ersten Mal gesehen hatten.

Er spürte die Nachtluft im Gesicht, die Straßen glänzten nass, während er den Bezirk in Richtung der Gürtellokale hinauf schlenderte. Was ihn einholte, waren nicht die heimlichen Treffen im Hotel oder der Sog einer bei jedem Mal aufs Neue sprachlos staunenden Lust, einer Anziehung und eines Aufatmens, als wären sie beide in ihren Leben nicht bloß kurz vor dem Ersticken gewesen, sondern bereits weit darüber hinaus. Womit ihn die Erinnerung so umfing, als müsste sie alle Zeit auf einmal gutmachen, waren jene Augenblicke, in denen er vor beinahe einem Vierteljahrhundert einen ganzen Morgen lang neben Elsa gelegen war. Ihr Kopf neben seinem im Gras im Frühsommer 1994. Er hätte nur die Hand ausstrecken müssen, so hatte ihm Elsa erst letzten Herbst flüsternd erzählt, und sie berühren. Sie hätte sich zu ihm gedreht und ihn geküsst. Er hatte es nicht gemacht.

Ein paar Stunden davor war er damals noch mutig gewesen, hatte sie angerufen, sie aus dem Schlaf gerissen. „Ruf mich ruhig an, wenn ihr durchmacht“, hatte sie am Vorabend zu ihm gesagt, obwohl sie müde gewesen war. Michael war mit einem Freund weitergezogen. Natürlich hatte er sie noch zu überreden versucht, natürlich hatte er ihre Worte als Vertröstung empfunden. Im Weggehen hatte sie ihn angelächelt, undurchschaubar wie so oft, eine Bewegung stärker in ihren Augen denn an ihren Lippen. Augen, von denen nie klar wurde, ob sie hell oder dunkel strahlten. Weit, endlos, das waren sie, doch in keiner Farbe fassbar.

Ob sie geblieben wäre, wenn sein Schulfreund Martin nicht gekommen wäre? Oder hatte sie ihr Treffen spätnachmittags bereits als Rendezvous angesehen? Michael war schon froh gewesen, sie überhaupt zu treffen, das erste Mal abseits der Uni, ohne andere ringsum. Warum er seinem ältesten Freund gesagt hatte, er könne später gern vorbeischauen, war eigentlich nicht zu erklären. Als müsste er sich vor etwas schützen. Womöglich hatte er sie auch nur deshalb spätnachmittags in einen Schanigarten eingeladen, und nicht zu einem Abendessen oder einem Drink später am Abend. Um erst gar nicht in Gefahr zu geraten, das Erträumte wirklich zu erleben. Sie, Elsa, und die Sommersprossen unter ihren Augen. Manchmal sah sie ihn im Proseminar an, oder stand mit ihm auf eine Zigarette vor der Lehrveranstaltung im Gang, doch was bedeutete ihr Schauen wirklich, lächelte sie ihn an oder belächelte sie ihn?

Sie war die schönste Frau gewesen, die er je gesehen hatte. Allein das hätte ihm schon als Ausnahmegenehmigung für alles gereicht, was zwischen ihnen beiden nach so langer Zeit geschehen sollte. Damals war er davor zurückgeprallt. Als hätte ihre Schönheit allein gereicht, um unbewusste Schranken einzuziehen.

Bis auf wenige Durchlässe wie eben jenen, als er sie am nächsten Morgen um sechs Uhr früh aus dem Salettl, einem der wenigen Frühstücks-Cafés der Stadt, unweit des Türkenschanzparks, angerufen hatte. Dass er es tat, hatte er selbst kaum geglaubt: Der helle Morgen und das Gefühl, zu den wenigen Übriggebliebenen dieser Nacht zu gehören, ohne größere Beeinträchtigung durch den Alkohol zu spüren, in schwebender, flirrender Euphorie, deren Zerbrechlichkeit angesichts eines solchen Auftauchens nach all den Stunden in den Bars und Clubs eine Sicherheit in sich trug, die weder Begründung noch Bestätigung brauchte. So war er an diesem Junimorgen im Jahr 1994 in der engen alten Telefonkabine des Salettlsgestanden. Und Elsa hatte nicht einfach empört auf ihren Schlaf gepocht und aufgelegt, sondern sich amüsiert, war im Telefonieren allmählich munter geworden und eine gute Stunde später gekommen.

Jetzt das grobe Kopfsteinpflaster neben den Stadtbahnbögen, auswendige Schritte. Wie oft war er hier schon von einem Lokal zum anderen. Lokale wie das Chelseamit ihren Konzertbühnen waren für ihn als jungen Musiker, der seine eigenen Songs noch nicht einmal als Fingerübungen begriff, die großen Träume gewesen. Sein Name als bloße Vorstellung auf einem der Programmplakate, seine Hand im Halbdunkel am Mikro, bevor der helle Spot auf ihn fiel. Die Akkorde des ersten Liedes. Wie lang das her war und wie nah, als über alle Maßen Erträumtes! Wie Elsa jetzt und die Erinnerung an den im Gras nicht zu ihr ausgestreckten Arm. Als wären Berührung und Kuss nur geträumt wirklich wahr. Ganz zu schweigen von der Annahme, sie könnte sich in jenen Augenblicken wirklich gewünscht haben, ihn zu küssen, bevor sie nebeneinander im Gras eingeschlafen waren.

Michael trat unter der seit damals unveränderten Leuchtschrift des Chelsea in das Lokal. Wummernde Musik, bereits an der ersten Bar bekannte Gesichter, obwohl er den auf nunmehr vier Stadtbahnbögen angewachsenen Musik-Club, mit Ausnahme gelegentlicher Auftritte, seit einer Ewigkeit nicht mehr besuche. Ebenso lang wie auch all die anderen Gürtel-Bars. Wenn er in einem davon spielte, dann solo, für Bandauftritte waren ihnen solche Locations längst zu klein. Einige Jahre hatte er sich während der Weihnachtsfeiertage mit der akustischen Gitarre ins Chelsea oder ins B72 gesetzt, im Rhiz legte er öfter auf und beendete manchmal das Set mit zwei, drei Live-Songs.

Dass er als Gast seit Langem in keines der Lokale mehr ging, war ihm bewusst, nachgedacht hatte er darüber nie. Dabei hatte er immer davon geträumt, irgendwann als Musiker im Chelsea zu sitzen. Mit einem Bier vor sich, mit einer Songskizze oder dem Nachhall einer ersten Aufnahme im Kopf. Die Leute würden ihn kennen, doch respektieren und ihn in Ruhe sein Bier trinken lassen. So wie sie ihn nun erkannten. Den Song von Blur hatte es damals bereits hier gespielt.

Er bestellte ein Bier. Womöglich hatte er sich genau vor solchen Augenblicken zu schützen versucht, in denen all das in eins fiel. Das Erträumte, das Erlebte, das Jetzt und das Einmal. Die Nummer danach kannte Michael nicht. Die Musik war laut, wie sie sein sollte. Jetzt hätte er sich gern eine angezündet.


Martin Prinz wurde 1963 geboren. Er wuchs in Lilienfeld (Niederösterreich) auf, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik und lebt als Schriftsteller in Wien. Publikationen: Der Räuber. Roman (2002), Puppenstille. Roman (2003), Ein Paar. Roman (2007), Über die Alpen (2010), Die letzte Prinzessin (2016), Die unsichtbaren Seiten (2018), Der Weg zurück (2019) u. a. Auszeichnungen: Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien, Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich, Outstanding Artist Award der Republik Österreich, Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon (für die Verfilmung des Romans Der Räuber) u. a.

Foto: © Lukas Beck/Suhrkamp


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