Von Karin Peschka mit Helmut Gollner
Helmut sagt: Aggressive Schiachheit tut mir gut. Dass es gilt, in der Kunst das Schiache als schön zu empfinden, sagt er auch. Warum? Frag ich.
Weil es Widerstand leistet.
Und steckt sich ein Stück Mehlspeis in den Mund.
Mein Freund Helmut ist einer, der sich mit Worten auskennt. Die hat er in der Welt herumgetragen, hat in Indien unterrichtet, in China und wer weiß wo noch. In Wien? Natürlich. Und natürlich kennt er die Lerchenfelder Straße. Wohnt gar nicht weit weg.
Aber: Er ist nicht mehr gut zu Fuß. Ins Kaffeehaus auf der anderen Straßenseite, gleich dort, wo er wohnt? Das geht an den besseren Tagen.
Heute ist ein besserer Tag.
Da die Lerchenfelder Straße, die wir gemeinsam durchwandern wollten, so nah sie auch sein mag, fern ist für jemanden, dessen Beine. Dessen Kraft. Na ja.
Soll die Straße zu Helmut kommen, wenn er es nicht zu ihr schafft.
Auf diese Weise: Ich leg ihm das Tablet hin, dazu muss ich den Kaffee verschieben und den Mehlspeisteller. Dazu muss ich mich neben den Herrn Professor setzen und seinen schweren Mantel über den Sessel hängen, auf dem ich grad noch gesessen bin. Dem Lächelblick, dem Nachdenken, dem Schelm gegenüber. Der ein wenig aussieht wie Captain Jean-Luc Picard aus Star Trek beim Navigieren der USS Enterprise durch den Weltraum und das 24. Jahrhundert.
Nebeneinander können wir beide mit dem Finger auf dem Display durch die Fotogalerie spazieren, die ich von der Lerchenfelder Straße gemacht habe, vor zwei Wochen, an einem grauen Novembernachmittag.
Eine der ersten Aufnahmen zeigt, was Helmut, was Herr Professor Gollner, als aggressive Warze tituliert, die an einer Hauswand klebt, direkt unter einem Schild, Hausbetreuung und Winterservice.
Ein rostrotes, kreisrundes Stück Hässlichkeit mit einer Metallfeder aus seiner Mitte herausspiralisierend. Was es ist, was es war? Helmut spricht von der Schiachheit, die ihm gut tut.
Und wischt zum nächsten Bild.
Ein gelber Briefkasten vor weiß verputzter Mauer über rotem Ziegelsockel. Bisserl dreckig, sehr beklebt, dazu die üblichen Schmieragen. Ein ungeniertes Gelb in der Umgebung. Meint Helmut.
Wischt.
Das Bild einer Lerchenfelder Häuserfront versetzt ihn nach Italien. Kleinformatiger Stuck, die Ornamentik erinnert ihn an Sizilien, an Catania.
Die Hauptstraße dort habe viele Häuser mit dieser Art von Attraktivität. Proper, aber nicht deutsch-proper. Sie führt – geradezu unglaublich schön – vom Etna direkt zum großflächigen, wunderbaren Fischmarkt. Es stinkt, und alles ist nass, weil ständig der Boden aufgespritzt wird. Standln und kleine Cafés. Brauchst gute Schuhe, sagt Helmut, und dass es auf dem Markt die seltensten Fischarten gibt, die besten Meeresfrüchte. Ein Hochgenuss. Zwei Mal war er in Catania, einmal war es Jänner gewesen und warm genug, um draußen zu sitzen.
Jetzt ist November, wir sitzen in Wien.
Helmut wischt.
Den offenen Bücherschrank in der Lerchenfelder Straße hält er im schnellen Vorbeischauen für ein Aquarium.
Sein Finger auf dem Display.
Kugelpflanzen, im Sommer lilablau auf grünen Stängeln, jetzt herbstbraun und bilderstumm.
Poetischer wird’s nicht.
Als nächstes das Kirchendrohen, ausgelöst durch die Altlerchenfelder Pfarrkirche zu den Sieben Zufluchten. Aversion. Spitzen stechen in den sich eindunkelnden Himmel.
Es folgt ein von hinten fotografierter Mann. Arbeitshose, oranger Kübel in der Rechten, er geht energisch mit weit ausholenden Schritten, den Blick nach links gewandt. Die Figur, die Hose, der Kübel. Der Schwung. Das gefällt.
Bilder, ob gemalt oder fotografiert, die über den Zustand der Welt belehren wollen, sind banal. Sagt Helmut. Denn: Wir wollen nichts wissen. Bedeutung oder Bedeutsamkeit ist für die Würst.
Danach ein Hauseingang, eine herrschaftliche Tür mit Glaseinsätzen und über und über mit Graffiti verziert, die Schriften zart.
Weitergewischt: Autos vor der Buchhandlung Lerchenfeld. Eine geordnete Wiener Straßenszene. Du stehst, du gehst, du fährst. Du wartest an einer Ampel, benutzt einen Zebrastreifen.
In Vadodara sind die Zebrastreifen nur verblasste Muster auf den Fahrbahnen. Oder waren es zu Helmuts Zeiten. Siebzehn Winter hat er in der indischen Universitätsstadt unterrichtet. Geregelter Verkehr? Er lacht. Wer dort eine Straße überquerte, musste überleben wollen. Chaos, Kleinmotorräder, Viecher. Affen haben mit ihm gewartet, um vom Park zum Universitätsgelände zu kommen. Hatten wohl auf eine Mitgehgelegenheit gehofft. Der Campus? Eine große G’stetten.
Hinter dem Hotel, in dem er wohnte, ein staubiges Dorf, ein muslimischer Stadtteil. Männer mit hennarotem Bart, auf der anderen Seite eines Abgrunds die Melkstelle der Kühe. Wildschweine, Elefanten, Wasserbüffel, Kamele, die mit ihrem Schlurfgang wie Philosophen daherkamen. Zum Anspeiben schön, sagt Helmut.
Ich sehe nicht mehr auf das Tablet, auf das vor zwei Wochen Fotografierte. Sondern auf ihn. Er erzählt von verfallenden Häusern. The beauty of decay. Sagt er ohne jeden Sarkasmus.
Helmut beschreibt die Dalits, Menschen unterhalb aller Kasten, die Adivasi, die indische Urbevölkerung vor der Landnahme durch die indogermanischen Einwanderungen. Spricht von den leuchtenden, frisch gewaschenen Saris der auf der Straße lebenden Frauen. In aus Fetzen gebauten Zelten hausten sie mit ihren Familien. Obdachlose.
Weiter in unserer Lerchenfeld-Galerie.
Das Bild eines gelb-schwarzen Taxi direkt-Würfels. Sie sprechen mit dem Fahrer persönlich. Wie der Briefkasten hat auch der Taxi-Würfel bessere Zeiten gesehen. Aber: Ein Ding ist ein Ding ist ein Ding. Anthropomorphismus mag Helmut gar nicht.
Wie das wär, per Taxi direkt auf einen anderen Kontinent chauffiert zu werden. Frag ich. Und dort in eine indische Rikscha umzusteigen?
Fein wär das. Sagt Helmut.
Was folgt, sind weitere Graffitis. Bemalter Putz, beklebtes Metall, Papier, heruntergefutzelt und neu hinaufgepickt. Concrete steht da verkehrt herum, daneben I’m a fesch lonesome boy. In Vadodara fressen die Kühe Plakate. Ein Eck fängt mit Medit an, ein anderes hört mit eitag auf. Kunst ist das und entwickelt Sinn für sich, findet Helmut.
Und wischt.
Ein zerrissenes Plakat hinter einem Baustellenzaun, die Ankündigung einer Revue über Marlene Dietrich und ihre Schwester, eine Reihe roter Münder und blauer Augen und Zerknüllung, und das ist witzig.
Noch einen Wunsch? Fragt der Ober. Zahlen bitte.
Der Herr Professor zahlt streng meins auch, und als ich abwehren möcht, sagt er: Tatatata! Und ich: Sapperlot noch eins.
Poetischer wird’s wirklich nicht.
Ich soll ihn in seine Wohnung begleiten, Helmut möchte mir etwas zeigen. Bevor wir uns aufraffen, wischen wir weiter zum Ende der Galerie und der Lerchenfelder Straße, staunen über den Ritter, der sich in eiserner Rüstung hoch oben auf einem Dachspitz über den Abgrund beugt.
Und über den Aufkleber auf einem Rohr: Love everything. Hate everything else.
Draußen lärmt es, warten wir vor einem das Licht reflektierenden Zebrastreifen auf Grün, gehen über die Straße.
Die große Haustür aufstemmen. Zwei Stockwerke hinaufsteigen. In der Wohnung soll ich Helmut ein Bild aus der Galerie noch einmal zeigen.
Es ist eines dieser Ornamente, Außenstuck. Ein rosa Haus, Lerchenfelder Straße 124. Auf dem stilisierten Schlussstein über einem Fensterbogen ein makelloses, pausbackiges, gesüßtes Kindergesicht. Die Augenlider halb gesenkt, die Haare winden sich in dicken Strähnen wie Medusaschlangen unters runde Kinn.
Helmut zieht aus seinem großen Schatz an Fotografien, an diesem Festhalten seiner Reisen, eine bestimmte heraus.
Schau. Sagt er. Das Gesicht im Steingehaue der Lerchenfelder Straße ist langweilig in seinem Ebenmaß. Aber es erinnerte ihn an die Fotografie, die ich nun in meinen Händen halte. Aufgenommen – genau – in Vadodara.
Ein zarter Frauenkopf, der gleiche abwesende, gesenkte Blick. Die Nase aber angeschlagen, heller Teint, die Augen, die Brauen, der Mund in schönen Farben, allerdings fleckig, und der Hals, der Torso verlieren sich im umgebenden Schmutz und Unrat. Teil einer der vielen religiösen Aufbauten nach einem Fest. Das Klumpert (sagt Helmut) wird liegengelassen, und so fand er im Abfall unverhofft diese beschädigte Sanftheit.
Weißt du. Sagt er. In Indien ist es feucht und heiß. Die menschgemachte, gebaute, geformte Schönheit verschwindet und wird ausgelöscht von einer naturgemachten Schönheit. Ausgewaschene Farben, Schimmel.
In Indien hat Helmut, hat mein Herr Professor, den ästhetischen Vorteil des Nichtgemachten, des Absichtslosen lieben gelernt. Des Freien.
Und das hat ihm gut getan.
Wir schweigen.
Müd ist er, und ob ich mich noch ein wenig zu ihm ins Wohnzimmer setzen möcht?
Das Tablet mit der Galerie im Rucksack verstaut.
Er will nur kurz die Augen zumachen. Helmut legt sich auf die Couch. Ich sitz im Ohrensessel und lausche.
Ein paar Straßen weiter stockt der Verkehr durch die Lerchenfelder Straße.
Love everything, hate everything else.
Ob man sich einen Satz einverleiben kann?
Was meinst du, Herr Professor Gollner? Helmut schüttelt im Liegen den Kopf und sagt: Über Sätze, die man liebt, soll man nicht nachdenken.
Dann murmelt er etwas Goschertes übers Leben und übers Sterben. Ich versteh es nicht ganz oder will es nicht verstehen.
Sondern stell mir vor, wie er ein Schiff der Sternenflotte durch den Orionnebel navigiert.
Still ist es. Und gut.
Helmut lächelt, sagt: Gleich, gleich bin ich wieder bei dir.
Helmut Gollner ist ein österreichischer Germanist. Er war als freier Publizist und Literaturkritiker sowie als Universitätslektor an zahlreichen in- und ausländischen Universitäten tätig. 2005 erschien der von ihm herausgegebene Sammelband Die Wahrheit lügen. Die Renaissance des Erzählens in der jungen österreichischen Literatur, 2009 Die Rache der Sprache. Hässlichkeit als Form des Kulturwiderstands in der österreichischen Gegenwartsliteratur, 2016 seine gemeinsam mit Klaus Zeyringer geschriebene Literaturgeschichte: Österreich seit 1650.
Karin Peschka wurde 1967 geboren und ist in Eferding, Oberösterreich, als Wirtstochter aufgewachsen. Sie besuchte die Sozialakademie Linz und arbeitete u. a. mit alkoholkranken Menschen und mit arbeitslosen Jugendlichen, publizierte in diversen Anthologien und schrieb Kolumnen für oe1.ORF.at. Ihr Debütroman Watschenmann (2014) wurde 2019 für die Bühne adaptiert und im Wiener Volkstheater aufgeführt. 2016 erschien ihr Roman Fannipold, im Jahr darauf ihr Erzählband Autolyse Wien und 2020 der Roman Putzt euch, tanzt lacht. Im Februar 2023 erscheint mit Dschomba ein weiterer Roman im Otto Müller Verlag. Zu ihren Auszeichnungen und Stipendien zählen u. a. das Robert-Musil-Stipendium (2020-2023) und der Ingeborg-Bachmann-Publikumspreis 2017. Zuletzt war Putzt euch, tanzt, lacht auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2020.
peschka.at
© Foto: privat, 2022
Lerchenfeld, literarisch ist ein Projekt von artminutes in Kooperation mit der Lebendigen Lerchenfelder Straße.
Idee, Konzept & Projektleitung: Angela Heide/artminutes