Lerchenfeld, literarisch: Der Sinn des Lebens (Text)

Von Andrea Heinz

Ich habe nie jemandem davon erzählt. Es war mir einfach zu peinlich. Ich traf sie auf einer Geburtstagsfeier, eine berühmte Schriftstellerin wurde älter, viel Alkohol, aber das tut ja hier nichts zur Sache. Sie saß mir gegenüber, zwischen uns zwei leere Bierflaschen, wir kannten uns nicht, waren uns aber leidlich sympathisch, und nach ein paar achtlos hingeworfenen Sätzen schaute sie mir drohend in die Augen und sagte, sie könne mir aus den Karten lesen. Sie brauche keine Karten dafür, ich müsse tatsächlich nicht einmal anwesend sein. Sie wüsste sowieso schon alles über mich, was sie wissen müsse. Ich war überrascht. Damit schien sie Erfahrung zu haben, sie redete einfach weiter, als wäre das alles eine völlig alltägliche Situation. Vielleicht war es das auch, für irgendwelche Menschen, irgendwo auf der Welt, was wusste ich denn. Mir war meine Zukunft eigentlich relativ gleichgültig, es gab nur eine Sache, die für mich von Belang war. Aber das wusste sie natürlich bereits, sie wusste alles, das hatte ich mir gemerkt. Ich glaubte ihr, ich kann es nicht erklären, aber ich glaubte ihr von Anfang an. Ich war sicher, wenn jemand meine Frage beantworten konnte, dann sie. Ich wollte wissen, was der Sinn des Lebens war. Der Sinn meines Lebens. Natürlich war mir bekannt, wie es läuft: dass nach dem Tod eines jeden Menschen jemand auftaucht, und ihm oder ihr erklärt, was das alles sollte. So wie einem, nur als Beispiel, am Ende von The Sixth Sense erklärt wird, dass der Arzt die ganze Zeit schon tot war. Und dann denkt man: Ahh, ja klar, deshalb! Bei einem Menschenleben ist die Erklärung natürlich komplexer als bei einem 90-minütigen Hollywood-Film, zumindest würde ich das erwarten. Aber vielleicht ist ja auch bei uns die Erklärung die, dass wir längst tot waren, dass wir nur schliefen, wie es bei Shakespeare heißt, oder am Ende dieses Smiths-Songs, wo wiederholt wird, was ein Schweizer Parapsychologe aus dem Grab heraus auf ein Tonband sprach: Du schläfst, willst nicht glauben. Jedenfalls: So lange konnte ich nicht warten. Ich wollte es jetzt wissen. Und da kam mir diese Frau gerade recht, fast so, als hätte das Schicksal sie mir geschickt. Das mag vielleicht überraschen, weil ich wie ein sehr rationaler Mensch wirke, aber ich glaube an Schicksal. Ich sagte also zu ihr: Ok. Enttäuschenderweise sagte sie es mir aber nicht gleich. Sie wollte am Telefon mit mir sprechen, sie brauche, sagte sie, die Schwingungen, die sich durch die Leitungen übertragen, damit es auch wirklich funktionieren würde. Ich zückte sogleich meinen Terminkalender, jetzt kam endlich Bewegung in die Sache, ich wollte jetzt „Nägel mit Köpfen machen“, wie man sagt. Sie sah mich entsetzt an. Ich hatte einen fundamentalen Fauxpas begangen, keine Demut, keine Ehrfurcht gezeigt, und ich schämte mich sofort. Ich fürchtete schon, nun wäre unser Deal geplatzt, aber zu meiner Erleichterung schien sie weiterhin bereit zu sein, mir das Geheimnis zu verraten. Ich fühlte mich unendlich gesegnet. Der Ablauf (wie kann man so etwas nicht wissen, sagte ihr verachtungsvoller Blick) war der übliche: Sie würde mir per Boten eine Nachricht zukommen lassen, in der sie mich informieren würde, wann ich mich in welcher Telefonzelle einzufinden hatte. Es musste eine ganz spezielle Fernsprechanlage sein, erklärte sie mir, und mir wurde augenblicklich klar, dass es nur so gehen konnte. Wie hatte ich ernsthaft erwarten können, sie würde mich einfach am Handy anrufen? Um den peinlichen Moment zu überspielen, griff ich nach meiner Bierflasche, erinnerte mich aber erst, als ich sie zum Mund geführt und den Kopf in den Nacken gelegt hatte, dass sie längst leer war. Ein lauwarmer Tropfen rann langsam über meine vom Reden ganz rau gewordene Zunge in die Kehle hinab. Ich verschluckte mich fast daran, so ruckartig stand sie plötzlich auf. Es sei ja nun alles besprochen, ich würde von ihr hören. Wann, das sagte sie mir nicht, sie drehte sich wortlos um und verließ das Etablissement. Die Geburtstagsgäste waren längst verschwunden, überhaupt war das Lokal leer, selbst das Personal war längst nach Hause gegangen.

Sie meldete sich lange nicht. Nach ein paar Monaten hatte ich mich damit abgefunden, dass sie – kein Wunder nach meinem unmöglichen Verhalten – beschlossen hatte, dass ich der Botschaft nicht würdig war. Dann klingelte es an meiner Tür, und als ich sie öffnete, lag ein dünnes, in der Mitte einmal gefaltetes liniertes Schreibheftblatt auf dem Fußabstreifer. Montag, 13 Uhr, Fernsprechanlage bei der Kleingartensiedlung im Prater.

Ich war schon eine Stunde vorher da, so aufgeregt war ich. Um 13 Uhr und 0 Sekunden klingelte mein Mobiltelefon. Die Fernsprechanlage war natürlich schon lange nicht mehr in Betrieb, aber die Schwingungen, erklärte sie mir, seien hier trotzdem besser. Sie könne sonst nichts sehen, wenn sie versuchte, in die Zukunft zu schauen. In meine Zukunft. Du wirst, sagte sie, einen Mann treffen. Auf der Lerchenfelder Straße. Er wird dir sagen, was der Sinn deines Lebens ist. Ich war außer mir. Am nächsten Tag wollte ich verreisen, mehrere Wochen würde ich weg sein – Wochen, in denen ich den Mann auf der Lerchenfelder Straße verpassen konnte. An jedem einzelnen dieser Tage, in jeder Sekunde könnte ich ihm begegnen. Ich sah ihn warten auf mich, suchend durch die Straße irrend, von der Museumsstraße bis hinauf zum Gürtel, und wieder zurück, immer wieder: stadtauswärts, stadteinwärts. Während der Wochen, in denen ich unterwegs war, wurde ich immer obsessiver. Ich suchte mir Bilder der Straße auf Google Maps, ich stellte mir vor, wie ich ihn an der Ecke Strozzigasse traf, wie wir einander vor dem Haus zum heiligen Petrus über die Füße stolperten – oder wartete er vor dem Palais Auersperg auf mich? Nachts hatte ich Albträume, ich sah durch seine Augen, wie ich an ihm vorbeilief, ihn nicht erkannte, wie er mir vergeblich nachrief. Aber ich hörte ihn nicht. Was, wenn er in einem der Höfe des Schottendurchhauses wartete? Wenn er immer genau dann in einen anderen Hof ging, wenn ich gerade den betrat, in dem er sich eben noch befunden hatte? Was, wenn ihn ein Auto überfuhr, weil er verzweifelt über die Straße lief im Glauben, mich entdeckt zu haben? Ich sah uns wie zwei rot blinkende Punkte auf der Karte, der eine Punkt am untersten Ende, der andere Punkt am obersten Ende der Straße. Wie sollten wir uns jemals begegnen auf dieser riesigen, endlose Straße, wie hatte diese Hexe sich das vorgestellt? Wofür wollte sie mich bestrafen?

Als ich aus dem Urlaub zurückkehrte, war ich am Ende meiner Kräfte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken: Da draußen lief ein Mann herum, der die Wahrheit in seinem Besitz hatte. Aber ich würde ihn niemals finden. Ich startete ein paar halbherzige Versuche, lief ziellos die Lerchenfelder Straße auf und ab, immer wieder, bis ich nicht mehr konnte. Ich versuchte, mir unser Gespräch in Erinnerung zu rufen. Die Mobilfunkverbindung an dieser Stelle des Praters war traditionell schlecht, ich hatte sie nur mit Mühe verstanden. Vielleicht hatte sie gar nicht Lerchenfelder Straße gesagt? Lag die Straße, auf der der Mann auf mich wartete, überhaupt in Wien? In Österreich? Mein Leben fing an, mir zu entgleiten. Ich konnte meiner Arbeit nicht mehr nachgehen, ich hatte einfach keine Zeit mehr dafür – ich musste auf der Straße sein, ich durfte ihn nicht verpassen. Mein Freund verließ mich, aber es machte mir nichts aus. Der Mann auf der Lerchenfelder Straße würde mir sagen, wo ich den finden würde, der wirklich für mich bestimmt war. Mein Freund hatte mich sowieso immer gelangweilt. Ich hatte nun eine neue Arbeit, ich bearbeitete Beschwerde-E-Mails an ein deutsches Verkehrsunternehmen. Das Unternehmen konnte ein steigendes Beschwerdeaufkommen verzeichnen, die Auftragslage war gut, und es wurden permanent neue Menschen eingestellt, die unentwegt standardisierte Antworten an die verzweifelten Beschwerdebriefschreiber und -schreiberinnen verschickten. Manche der Zugreisenden waren versehentlich an ihnen bislang unbekannten Orten gelandet, was passieren konnte, wenn Weichen kaputt waren oder Zugführer den falschen Fahrplan hatten. Viele meiner Kolleginnen ertrugen die psychische Belastung nicht, aber ich machte schnell Karriere – die Probleme dieser Reisenden schienen mir lächerlich im Vergleich zu meinen eigenen. Sie sollten doch froh sein, dass ihnen nicht Schlimmeres widerfahren war. Der Vorteil an dieser Tätigkeit war zudem: Ich konnte ihn auf der Lerchenfelder Straße ausüben. Home-Office war in diesem Berufsfeld gang und gebe, und da die Lerchenfelder Straße längst mein Home geworden war, hatte ich nun endlich einen Weg gefunden, meine Suche mit einem geordneten Berufsleben zu vereinbaren. Zudem hatte ich entdeckt, dass die stationäre Suche die viel effizientere war. Ich saß in täglich wechselnden Lokalen, immer so, dass ich die Straße im Blick hatte. Irgendwann musste er vorbeikommen, es ging gar nicht anders.

Und schließlich entdeckte ich das fehlende Puzzlestück: Es gab einen Ort, der „Treffpunkt Lerchenfeld“ hießt. Wie viele Male war ich daran vorbeigelaufen, ohne es zu sehen. Treffpunkt! Ich traf ihn gleich am ersten Tag, als ich mich dort niedergelassen hatte. Ich schrieb gerade einer Frau, die versehentlich in einer brandenburgischen Kleinstadt gelandet war, obwohl sie eigentlich nach Saarbrücken wollte. Und das auch noch mit vierzehntägiger Verspätung. Ich kopierte eben die letzten Versatzstücke meiner Nachricht hinein („Wir danken für Ihr Verständnis …“), da sah ich ihn. Ich erkannte ihn sofort. Er war es. Er duftete nach Rosen, ich konnte es deutlich riechen. Er kam zielsicher auf mich zu, achtete nicht auf die Menschen, die ihm – von rechts – Nelken oder – von links – Zeitschriften andrehen wollten. Er sah mir direkt in die Augen. Er lächelte, und ich wusste, mein Leben hatte einen Sinn, es war ein schöner Sinn, alles würde gut werden. Er blieb vor meinem Tisch stehen, vor Aufregung drückte ich versehentlich auf den Senden-Button und schickte die Mail ab, ohne der Frau noch eine gute Reise gewünscht zu haben. Er machte den Mund auf. Seine Stimme klang wunderschön, harmonisch, seine Augen lächelten unentwegt, während er sprach. Aber die Frau hatte vergessen, mir zu sagen, dass er eine Fremdsprache sprach.


Andrea Heinz wurde in Bad Reichenhall geboren. Sie lebt als freie Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien, Bayern und manchmal auch in Schweden.

© Foto: privat


Lerchenfeld, literarisch ist ein Projekt von artminutes in Kooperation mit der Lebendigen Lerchenfelder Straße.
Idee, Konzept & Projektleitung: Angela Heide/artminutes

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