Von Lisa Spalt
Ich hab das Lerchenfeld immer woanders hingetan. Ich hatte das Neulerchenfeld darin eingemeindet, dessen erste Hausnummer die Grundsteingasse 6 war, was aber eigentlich nicht möglich ist, da die Nummer 6 selten als erste auftritt. In der Grundsteingasse gibt es die Galerie Wechselstrom, darin wohnen drei Axolotl. Einer heißt José Jesus. Der Vater wie der Sohn. Im Anfang hieß die Straße anders, und das Lerchenfeld, auf dem die Lerchen flogen, ist eben auch anderswo als das Neulerchenfeld. Es war mir nie wirklich bewusst, dass an der Lerchenfelder Straße der siebte Bezirk in den achten kippt, irgendwo in der Mitte der Straße oder vielleicht eher ganz an einem der beiden Ränder, das aber jedenfalls dann auch umgekehrt.
Wo habe ich so lange gelebt? Kennt man Orte, wenn man die Ordnungen nicht versteht? Ohnedies bin ich eh grad noch in der Grundsteingasse. Ein Grundstein, ein Anfang. Wovon?
Ein nicht sehr großgewachsener Mann verschleiert seine Glatze mit einer Zweimillimeterfrisur darum herum. Er trägt einen hellgrauen Anzug und zu kurze Hosen. Ist er anderer Meinung als ich, oder fehlt ihm die Möglichkeit, sich anders zu kleiden? Sieht nicht so aus: goldgeränderte Brille, Kettchen am Handgelenk. Keine Socken, aber wohl Maßschuhe an den Füßen, sie scheinen mir handgenäht. Am linken Arm des Herrn baumelt eine Yves-Saint-Laurent-Tasche, es ist die einer Riesin. Der Besitzer sieht, was diesen Eindruck verstärkt, während er sich auf den Absätzen hin und her wiegt, zu einer großgewachsenen Frau in Schwarz hinauf. Seltsam. Wenn man sagt, dass man zu jemandem aufsieht, dann meint man, dass man das Gesicht in den Blick nimmt, also ins eigene Blickfeld rahmt, an dem man später den Körper wiedererkennen will. Seit zwei Minuten sagt inmitten dieses Gesichts der Sprechapparat der Frau den beruflichen Werdegang der Besitzerin her, als wäre die elegante Person ein sprechender CV in 3D. Die zwei Obdachlosen bei der Bücherbox grüßen mich, als ich vorbeigeh. An wem? Und sind es dieselben beiden wie gestern? Die einen wie die anderen? Mir kommt vor, es wiederholt sich alles oder bleibt verkehrt stehen. Es passiert einfach nichts, und immer noch sind die großen Taschen Mode. Logo. Logo. Die Oberfläche ist mit dem hässlichen Logo übersät. Ist auch was drin? Gibt es Inhalt? Eben habe ich im Zug gelesen, dass die Lerchenfelder Straße früher Feldgasse hieß und dann zur Steinergasse wurde. Lerchen, Felder, Steine. Wo ist das Lerchenfeld hin? Morgens Wasser vom Ausspülen der Kaffee- und Teekanne aufgefangen und zum Gießen in Flaschen abgefüllt. Die vertrockneten Blumen von Carla und Helene kontrolliert. Die, welche aussamen, in einen Teller gelegt, um sie später auf der Wiese auszubringen. Runtergefallene Samen eingesammelt. Die tote Fliege vom Fensterbrett als Dünger dazugelegt. Eine Wespe noch. Dabei gekichert. Den Tomaten reichlich Kaffeesatz gefüttert. Sie fressen ihn. Er verschwindet innerhalb von Tagen und hinterlässt Löcher in der Erde, die ich mit neuem Kaffeesatz fülle. Ich glaub, ich höre die Früchtchen schmatzen. Die Linsen im Keimglas treiben aus. Die Bohnen im anderen noch nicht. Das Wasser aus den Keimgläsern zum Gießen beiseitegestellt. Stickstoffdüngung? Aus dem Rucola eine fette grüne Raupe gepickt (die zweite in zwei Tagen) und in den Schrebergarten nebenan expediert. Jetzt irres Kichern. Zur Strafe hat ein Tier seltsame dunkelgrüne Eier auf der Erde und auf den abgenagten Pflanzen abgelegt. Die Heuschrecke, die im Terrarium aufgetaucht ist, ist doppelt so groß wie noch vor zwei Tagen. Ich sollte sie freilassen, bevor sie mutiert. Ob man sie essen könnte? Stabschrecken sehr unbeweglich. Erschöpft? Zoff mit der Heuschrecke? Das Blut der Stabschrecken ist von intensivem Grün. Es ist kein Blut. Ich entdecke: Ich hab mich nicht über die Lerchenfelder Straße, sondern über die Lerchenfeldgasse im Siebzehnten informiert.
Noch einmal zurück: Die Lerchenfelder Straße war früher die Kremser Straße, ein Teil hieß Rofranogasse. „VOLLER VIELFALT“ wirbt dort heute der Supermarkt. Ein „Online-Dog“ lädt zum Anbinden von Tierkörpern ein. „Durchgehend 100 Prozent Rindsleder“ bedarf keines weiteren Kommentars. Ich lese „VOLLER VIELFALTER“ und überlege ein paar Sekunden lang, ob ich das Entzifferte unter „Origami“ oder „Schmetterlingsfamilie“ einordnen soll. Der Gedanke kommt von den grünen Raupen. Sie fressen sich in alles hinein. Die automatische Tür vom Billa fährt wie das senkrecht geschlitzte Maul gewisser Tiere auseinander, und die eine Glaslippe ruft, indem sie mir in den Blick fährt, immer wieder und in verführerisch roten Zeichen „Willkommen Strozzigasse“. Immer wieder begrüßt die automatische Tür, die für nichts und wieder nichts auf- und zugeht, die Lerchenfelder Straße als Strozzigasse, und wie ich diesen Satz im Kopf noch einmal hör, muss ich an Thomas Bernhard denken. Es ist wegen der Menschheit. Ihr Verzweifeln an der Welt, die sie sind. Produzieren, verkaufen und kaufen, was geht, um zu überleben, und das kostet nur einen Untergang. Es ist aber der einzige, den wir haben. Der Konsum frisst den Menschen auf und bläht ihn dabei noch. Das Gummistiefelhaus an der Ecke drüben sieht mich unbeteiligt an. Es ist aus Ziegeln, Holz und Mörtel gemacht. Auch die Form erinnert nicht an einen roten Stiefel, der aber darauf abgebildet ist, als wärs ein Zeichen für etwas, das ich nicht kapier. Wer ließ ihn liegen? Was sagen wir damit? Hauptsächlich werden in dem Geschäft, wie es den Anschein hat, polyesterknisternde Regenmäntel und Sommerkleider vertickt. Das Zeichen heißt in dem Fall nichts, aber das liegt nicht an ihm. „Ihre Krone gibt es täglich hier in Ihrer Trafik.“ Die Monarchfalter verschwinden. „Four Roses“ ist ein Bourbon, „White Horse“ ein Scotch. Wir wollen guten Stoff, wir wollen ihn bunt. Es macht Freude, die vielen Blumenmuster zu sehen. Man darf dann an Natur denken, zum Beispiel an den Kautschuk (zu Deutsch: „die Träne der Bäume“), und wie man jedes Wetter mit der richtigen Kleidung wie ein Naturbursch übersehen wird. „ISOTOP FUCK“ rinnt von der Wand. Wo nur sind die Musterblumen hin? Wir haben den 25. Juli 2022, es hat im Schatten 36 Grad. Die „raum-akustik“ ist an der Ecke Piaristengasse festgeklebt. Das Klima dagegen kippt überall, und wohl deswegen wird einem hier alles noch einmal präsentiert, was an dem Vorgang Anteil hat: der schwitzende Mensch in seiner schwitzenden Kunststoffverpackung, das Motorrad unter ihm, aus dessen Auspuff das Kondenswasser rinnt. In einem der Schaufenster entdecke ich Kissen, die wie hellbraune Samt-Adventkränze geformt sind, nur ist der Kunststoff breit in eine Art Zopf geflochten. Im übernächsten Geschäft mit einer Aufschrift in mir unbekannten Zeichen sind Saugglocken und Klobesen im Schaufenster so hübsch arrangiert, dass ich erst denke, hier werden Luxusprodukte ausgestellt. Ich hatte vermutet, es handle sich bei dem Laden um ein Nachtlokal, da es sich „FÜLLBAR“ nennt. Die Dinge beim Namen zu heißen! Ich bewundere „Bürsten Eckhardt“ und „Bürsten Walter“ und überlege, wo der „Bio-Balkan“ vom Etikett weiter hinten liegen mag. Alles irgendwie tröstlich, obwohl mich die Saugglocke eine schwer zu gebärende Zukunft assoziieren lässt. Kinder, Kinder! Hier in der Nähe habe ich unlängst eine Gedenktafel fotografiert, die auf dem Bild seltsamerweise nicht lesbar ist, und heute finde ich sie auch nicht wieder. Vielleicht stand „Wir gedenken der blöden Menschheit“ darauf. Wundern würds mich nicht. Soll ich „SPORT LADEN“? Kann das helfen? Das Angebot leuchtet mich an, als würde es mich auffordern, leere Kilometer abzuspulen, um mich ins Vergeuden von Energie zu ergeben. „FotoSPEED“ bietet mir Denkstoff in punkto Heisenberg’schen Unschärferelation. Ob ich mich von „Devil’s Hand“ tätowieren lassen sollte? Wer tut so etwas? Und worum? Wo uns die Sonne gratis Krebse in die Haut brennt? „Eigene Erzeugung Boston“ wirbt „BACKSTITCH“ auf der anderen Straßenseite. Rückstich, Rückstich! Ich saus wie so ein Zickzackstich zwischen den Gehsteigen, Produkten, Bezirken.
Die Lerchenfelder Straße bildet in der Wahnsinnshitze einen Styx, einen Übergang zwischen Leben und Leben, und dabei bin ich hier dieses Mal nur ganz kurz zwischen zwei netten Terminen unterwegs. „Replugged Vienna“. Nehmt uns von der Platte! Die Atmosphäre hier hat sich verändert. Es scheint jetzt alles immer genau gegenüber zu liegen, auf der anderen Seite, die durch den Verkehr unerreichbar geworden ist. Uferbild. Mensch, eigentlich wollte ich hier über Ilse und Fritz berichten, die sich zum „Fröhlichen Wohnzimmer“ zusammengetan haben und unweit von hier residieren. Aber ich komm grad nicht in ihre fantastische, überquellende Wohnung, in der sich eine Welt ohne jeden überflüssigen Scheiß verbirgt. Also Strand. „Fly to Greece“, brüllt das Plakat vor mir, und ich denke: „Bitte flieg nimmer, wir dörren wie Mondschafe im Abgas der Düsen von Raketen.“ In der „SEIDENSTRASSE“ gibt’s, wie ich sehe, heute weit ausgeschnittene Polyester-Badeanzüge in Regenbogenfarben zu erstehen. „HEUTE: EXTREM AKTION!“ Eben habe ich, um auf den Punkt zu kommen, eine Arbeit abgeliefert, plauderte dabei ein wenig mit dem Auftraggeber, der meinte, dass er morgen nach Kreta fliegt. Na, schön für ihn. In Zukunft wird man das nicht mehr bringen können, sagt er. Ich denk: „Ah, was für ein Glück, er hats kapiert.“ Da blubbert der Mann, dass man in den kommenden Jahren eher erst im September in den Süden abhauen wird, weil es dann endlich nimmer so heiß ist und der Wald wahrscheinlich auch nimmer brennt. Drüben blinzelt mir im Schaufenster der Schriftzug „Satisfaction guaranteed“ in die Pupille. Jemand hat „SCHIRCH“ auf die Scheibe gekritzelt. Auf einem anderen Geschäft steht „Red Wing Shoes“, darunter „White Feather“. Kognitive Dissonanz ist das Schlagwort, das sich hier bebildert. Wenige nur kämpfen dagegen an. „With every pair of shoes you purchase Toms will give a pair of new shoes to a child in need. One for one“, heißts vor dem nächsten Schuhladen. Der eine oder der andere? Schenken, damit doch noch gekauft wird. Es ist alles sehr kompliziert. Es ist heute schon so heiß. „Take away or stay“, rät der Laden, der „Hot Food“ anbietet. Daneben ist „Olta“ auf die in den Gehsteig reinspringende Wand gesprayt und – dazu passend? / nicht passend? – „Mutti“. Sind Olta und Mutti ein Paar? Hat der Slang sie zusammengebracht? Wie alt sind die zwei? Sind sie Youngster, Hipster, Schulterer oder Handler? Werden sie dereinst in einer Wüste leben, ohne jemals wegzuziehen? Werden sie immer schon der Alte, immer schon die Mutti gewesen sein? Ich muss an Gert Neumanns Text denken, in dem er den Slang-Ausdruck „Alter“ ins lateinische „alter“ kippen lässt, um liebevoll den „Anderen“, das Gegenüber, die Alternative heraufzubeschwören. Ein paar Leute tragen Masken, um andere vor dem Virus zu schützen, ein paar Leute sind da. Sie fliegen nicht in den Urlaub, sie bleiben auf dem Boden, sie machen einen Schritt, sie verschenken Dinge, sie denken über die Lerchenfelder Straße, die eine Übergangsgrenze ist, hinaus. „Hier können Sie ihr blaues Wunder erleben“, schreit das Werbeplakat im Laden für elektrische Zahnbürsten, um Kaufende anzulocken, die keine Bediensteten haben, von denen sie sich blankpolieren lassen können. Ein anderes verkündet, dass der Vintage-Shop in naher Zukunft eröffnet werden wird. Mensch, was wird aus so einer Vergangenheit, wenn sie erst einmal angekündigt ist?
Lisa Spalt, geboren 1970 in Hohenems, lebt in Linz. Arbeiten zum Handeln in Sprache, Bildern und Objekten. Einzige feste Mitarbeiterin des Instituts für poetische Alltagsverbesserung (IPA). Zahlreiche Zusammenarbeiten mit Menschen aller Art, darunter Komponierende, Musizierende und Kunstmachende, z. B. Otto Saxinger (zuletzt: YOUTOPIA/Plan B, Video-Installation), Die Ex-Gewichtheberin (zuletzt: Auf der Welle von Frau Stöhr, fiktives Hörspiel) und Clemens Gadenstätter (zuletzt: die zelle über das Leben von Julius Klingebiel). Zuletzt erschienen: Das Institut (Czernin Verlag, 2019). Auszeichnungen: Outstanding Artist Award (2021), Heimrad-Bäcker-Preis (2021), Veza-Canetti-Preis fürs Lebenswerk (2022) u. a.
© Porträtfoto: Otto Saxinger
Lerchenfeld, literarisch ist ein Projekt von artminutes in Kooperation mit der Lebendigen Lerchenfelder Straße.
Idee, Konzept & Projektleitung: Angela Heide/artminutes