Lerchenfeld, literarisch: Mond über Lerchenfelder Straße (Text)

Von Susanne Karr

Orte, die man oft besucht oder frequentiert, schreiben sich manchmal in tiefere Schichten einer Psychogeografie ein. Wie auf einer Landkarte oder einem Stadtplan tragen sich Ereignisse dort ein, allerdings verschlüsselt, sodass sie nur von ausgewählten Personen abgerufen werden können. Bestimmte Straßen oder Plätze werden Träger:innen von Erinnerung, und selbst wenn sie sich äußerlich verändern, wie auch das Gesicht eines bekannten Menschen sich mit der Zeit verwandelt, so lässt sich der tieferliegende Gehalt wiedererkennen oder zumindest noch erahnen. Warum sich gerade eine Straße dafür eignet, ist schnell erklärt: Anders als ein bestimmter, definierter Ort, der wie ein Container Erfahrungen und Erinnerungen umschließt, hat eine Straße dieses dynamische Element, das es uns erlaubt, den Blick auf ein Werden zu richten. Das Sein also als etwas zu verstehen, das sich ununterbrochen entwickelt, fortschreibt und von jedem Punkt der Jetztzeit aus gesehen sich anders darstellt als ein voriges Mal. Immer unter der Lupe, oder mit der Brille, des momentanen Bewusstseinszustandes gesehen, sozusagen.

Die Lerchenfelder Straße eignet sich für eine solche psychogeografische Reflexion in besonderem Maße, allein schon wegen ihrer Wandelbarkeit. Diese zeigt sich nicht nur im Auf- und Abschreiten einer langen Hauptverkehrsstraße, die so viele Aspekte von Urbanität in sich vereint. Sie verbindet Palais der Innenstadt mit den Außenbezirken und den Wohnhäusern für Arbeiter:innenfamilien, die sich vor allem auf der Seite jenseits des Gürtels befinden.

Auch zeitlich lässt sich Veränderung beobachten, wenn Geschäfte und Lokale erscheinen und nach einer gewissen Zeit wieder verschwinden – wobei manche sich auch längerfristig etablieren. In zahlreichen Rückgriffen auf unterschiedliche Herkünfte derer, die sie beleben oder zum Ausgangspunkt ihrer Geschäfte machen, entspinnen sich Geschichten von nahen und fernen Orten. Daraus entsteht ein gewisses Flair der Offenheit, das sich etwa in der parallel geführten Josefstädterstraße so nicht erfahren lässt. Die Lerchenfelder Straße gibt die Gewissheit, dass viel Verschiedenes da sein kann, wahr sein kann, sich leben lässt. Sie steht für eine Art von Toleranz, für ein gleichzeitig mögliches Nebeneinander unterschiedlicher Realitäten.

Obwohl meine intensiveren Lerchenfelder-Straße-Eindrücke schon eine Weile zurückliegen, mögen sie vielleicht immer noch nachvollziehbar sein. Die Lerchenfelder Straße, das war immer so zwischendrin. Zwischen dem eher traditionsbewussten achten Bezirk und dem deutlich freieren siebten. Eine Straßenseite wurde dem siebten Bezirk zugerechnet, dem etwas ungeordneteren Neubau, die andere dem achten, der gutbürgerlichen Josefstadt. Wie man das auf einer so kleinräumigen Ebene festmachen kann, also auf zwei Straßenseiten ein und derselben Straße, lässt sich nicht leicht erklären. Wahrscheinlich müsste man in die Tiefen der Bezirkseinteilungen eintauchen, warum gerade hier der Wechsel zwischen 7. und 8. stattfindet.

Es war die Zeit des Studierens, des beinahe allabendlichen Ausgehens, der ununterbrochenen Verabredungen, zufälligen Begegnungen und nicht enden wollenden Gespräche. Schwer vorstellbar, wie sich dieser Lebensstil finanziell darstellen ließ – aber es ging. Kleine Nebenjobs hatten eigentlich viele Studierende, Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre. Außerdem war es noch die Zeit des Schillings, und auch wenn man Preissteigerungen einberechnet, war das Fortgehen damals leistbarer.

Zeitmäßig ist die damalige Balance zwischen Studieren und Social Life schwer vorstellbar – weil, quasi nebenbei, Seminararbeiten verfasst und Referate vorbereitet wurden. Es scheint, als hätten wir das Prinzip der Zeitdehnung damals noch besser beherrscht. Vorlesungen gab es nämlich auch am Vormittag – sogar eine um 9 Uhr, die nicht verpasst werden durfte, denn sie war Kult: Kulturkunde des Mittelalters bei Professor Birkhan, dem begeisterten Kenner zahlreicher alter Sprachen, darunter so schwierigen wie Altgälisch oder Mittelniederländisch. Außerdem war er überzeugender Geschichtenerzähler, ganz wie die Erzähler der Epen, mit denen er die gar nicht so dunkle Zeit präsent machte. Wie ein Wiedererkennen mutete da die Sichtung der Ritterfigur auf dem späthistoristischen Haus Ecke Strozzigasse an. Und ganz in der Nähe gab es sogar ein Haus mit zwei Rittern.

Vielleicht war es die ungetrübte Energie des Unterwegs-sein-Müssens, die dem Durchhaltevermögen zugrunde lag. Man traf einander immer wieder an ähnlichen Orten. Piaristengasse, Chelsea. Richtergasse: Blue Box. Zollergasse: Europa. Regelmäßige weitere Wege Richtung Schönbrunn, ins U4. Ausgangspunkt für diese Ausflüge war immer wieder die Lerchenfelder Straße: eine WG von drei Jungs, später zwei Jungs und einem Mädchen. Das war eine Altbauwohnung, natürlich. Flügeltüren, Parkett, ein wenig Chaos. Der Ort der Vorbereitung, Einstimmung auf das Nachtleben. Manchmal fröhlich, oft auch gemäß der angesagten schwarzen Mode ein wenig melancholisch, in einem beinahe luxuriösen, adoleszenten Weltschmerz. Bier oder Wein? Zigaretten, Rauchwaren, jedenfalls.

Wenn der Abend ins U4 verlegt wurde, kam ein Auto ins Spiel, manchmal ein – schon damals – altertümlicher Ford Escort in goldbraun, oder ein VW Golf. Parken war nicht so kompliziert wie heute. Im Nachhinein ist allerdings nicht ganz klar, wie viele Personen damals in ein Auto gepasst haben. Es waren mit Sicherheit nicht immer nur fünf, die mitfuhren. Lustig war’s oder auch manchmal düster – dunkel gewandete Personen, hell gepuderte Gesichter, schwarze Kajalstreifen um die Augen. Dead can Dance. The Cure, Sonic Youth, Siouxsie and the Banshees. Aber auch lebenslustig, explizit und farbenfroh: Nina Hagen, natürlich. Alles so schön bunt hier! Kate Bush. Prince. Und, immer wieder, obwohl alt: David Bowie, Police.

Das Mindset? Ein Oszillieren zwischen marxistischem Gedankengut und No Future – die besetzten Häuser in der Ägidigasse und Spalowskigasse waren zu Fuß leicht erreichbar, historisch gesehen richtig klassische Beispiele des sechsten Bezirks vor der großflächigen Gentrifizierung. Dazu gemischt wurden die verführerisch dekadenten Anschauungen Oscar Wildes und die romantisch anmutende Sozialkritik Emily Brontës. Lou Andreas-Salomé tauchte im Dunstkreis der männlich geprägten Psychoanalyse auf und vermittelte ihr Sinn. Und, wie erwähnt, gab es das Faszinosum mittelalterlicher zauberischer Welten. Das Mittehochdeutsche etwa, so erfuhr man es bei Meister Birkhan und in eigenen Übersetzungsversuchen, hatte unglaublich bildhafte, teils blumig poetische, teils drastische Ausdrücke, denen wir uns meist mehr gefühls- als wissensmäßig annäherten. Mittelalter war auch nicht die Zeit der düsteren Unterwürfigkeit unter kirchliche Doktrin, wie bis heute gerne das Klischee behauptet. Im Gegenteil blühte damals das später geächtete Hexenwissen. Unser Gefühl hatte uns also nicht getäuscht. Die so gerühmte Neuzeit war es, die autoritär das vielfarbige, lebenszugewandte unzensierte Wissen, wo es konnte, vernichtete – man denke an die Kräuterkundigen und Hebammen. Ein antifeministischer Zeitimpuls. Vielleicht war das auch ein Grund, warum uns die mythisch besetzte Zeit des Mittelalters faszinierte. Im Vergleich mit manchen ästhetischen Erscheinungen war das Interesse natürlich ebenfalls naheliegend: lange Mäntel, schöne Stoffe. Oft lange Haare. Ausgefallene Schmuckstücke, große Ringe.

Selbstverständlich war Feminismus ein wichtiges Thema. Zentral war die Grande Dame der philosophischen Vorlesungen, die wunderbar sanft wirkende, gleichzeitig mit scharfem Intellekt die patriarchalischen Erzählungen sezierende Professorin Birkhan. Role Model, Pionierin der akademischen Frauenforschung in Wien. Sie leitete die so inspirierende Vorlesungsreihe zur „Kulturunfähigkeit der Frau“. Die Namensgebung stammt aus einem Originalzitat von Freud und wurde in der Veranstaltung, die anders als die meisten Vorlesungen der Zeit eine offene Diskussionsbasis bot, ununterbrochen ad absurdum geführt. All diese Einflüsse, so zeigt sich im Nachhinein, waren Bestandteile abendlicher Treffen – nicht nur in besagter Altbauwohnung mit diverser Besetzung, auch in den angesteuerten Lokalen.

Auf der Suche nach einer wirklicheren Welt, die gerade in der Inszeniertheit gesucht wurde – also etwa im fast schon ritualisierten Ablauf eines Abends, wenn man sich in unterschiedlichen Personenkonstellationen  zusammenfand. Dann weiterwanderte, wechselte, hin zu den Orten der Nacht, die mit genügend Statist:innen und Kulisse ausgestattet waren, um verschiedenste Bekanntschaften und Erfahrungen zu machen. Die Lebenseinstellung bestand aus einer Mischung akademisch philosophischer Ambitionen und magisch geprägtem Denken, das jederzeit für wichtige Informationen offensteht und dabei nicht nur auf wissenschaftlich abgesegnete Erkenntnisse wartet. Kombiniert mit feministischen, gesellschaftskritisch politischen Positionierungen lebte man eine Art Experimentalpsychologie.

Inzwischen hat die damalige Lerchenfelder Straße sich innerlich geordnet, als hätte sie Schlagworte gefunden, die sich über die Straße verteilen. Und sie hat sich physisch stark verändert. Es gibt mehr klar positionierte Geschäfte und Lokale, also solche, die sich gezielt an ein bestimmtes Publikum richten. In meiner Erinnerung war die Straße früher durchmischter, unvorhersehbarer, viele Orte nicht leicht einzuordnen, was sie nun wirklich waren – Café? Beisl oder vielleicht doch Branntweinstube?

Trotz – oder wegen – ihres vielseitigen Charakters, den sie im Grunde behalten hat, bietet diese Straße eine Art Rückhalt und Orientierung. Sie schafft eine Verbindungslinie, könnte als ein Erzählstrang der Stadt mit vielen Aspekten fungieren. Und wie Stadt ein Abbild für Welt sein kann, so kann dies in kleinerem Maßstab auch eine Straße.


Susanne Karr (* in München) studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Wien, ließ sich zur Lebens- und Sozialberaterin ausbilden und promovierte in Kunst- und Kulturwissenschaften an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Im Laufe ihrer philosophischen Forschung konzentrierte sie sich als Independent Scholar in Animal Studies auf Konferenzen und in Texten auf die Philosophie der Mensch-Tier-Beziehungen und die künstlichen Grenzen von Natur/Kunst, Mensch/Tier und Leib/Seele. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Schreiben, den zahlreichen Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen und ihrem Forscherinnengeist gibt sie als Beraterin und Coach mit einem Hintergrund in Hypnosetherapie weiter. Publikationen u. a.: Verbundenheit. Zum wechselseitigen Bezogensein von Menschen und Tieren (Neofelis 2015); Connectedness as a Source of Instruction. In: In Other Tongues (2018); Mirror Reflections as Agents of Connectedness. In: Humans and Other Animals, Irish Philosophical Society (2019); Nicht mehr still wie eine Zündschnur. Überlegungen zu Laura Jean McKays The Animals in That Country. In: Kohabitation, Koexistenz, Konvivialität (Neofelis 2022) Ihr Blog www.aureliapangolini.com beschäftigt sich mit Verbundenheit.

© Porträtfoto: Andrea Sojka



Lerchenfeld, literarisch ist ein Projekt von artminutes in Kooperation mit der Lebendigen Lerchenfelder Straße.
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