Lerchenfeld, literarisch: Von Lerchen und Lercherln in Wien (Text)

Von Bettina Balàka

Mein Vater, der als junger Mann im Chor der Salzburger Festspiele sang, legte Wert darauf, uns Kinder schon früh mit klassischer Musik vertraut zu machen. Zu meinen allerersten Musiktheatererlebnissen gehörte Mozarts Zauberflöte, die man seit jeher für besonders kindgerecht hält. Auf den ersten Blick erscheint dies einleuchtend, schließlich beinhaltet sie eine Riesenschlange, Knaben, die vom Himmel herabschweben, eine Nachtkönigin, Palmen mit Goldblättern und magische Musikinstrumente, also genug Märchenhaftes, um das Interesse von Kinder zu fesseln. Bei der Auslegung der Handlung jedoch taten sich auch die Erwachsenen schwer, und so blieb ich als kleines Mädchen mit vielen Rätseln allein. Die für mich unbegreiflichste Figur war Papageno, der Vogelfänger im bunten Federkostüm. War er wirklich halb Mensch, halb Vogel, wie Tamino meinte? Ein Fabelwesen, einen Vogelmenschen oder Vogelsänger, wie ich ihn genannt hätte, konnte ich mir vorstellen. Doch Papageno trug Käfige voller gefangener Vögel, um sie der Königin der Nacht zu bringen – hätte ein echter Vogelmensch seinesgleichen der Freiheit beraubt? War Vogelfänger etwa ein Beruf? Und dann sang er auch noch: „Ein Netz für Mädchen möchte ich/ich fing‘ sie dutzendweis für mich./Dann sperrte ich sie bei mir ein/und alle Mädchen wären mein.“ War das nicht eher ein Verbrecher als eine lustige Figur?

Es kam noch schlimmer, denn das Schicksal der Vögel wiederholte sich tatsächlich in dem einer jungen Frau, die entführt und gegen ihren Willen festgehalten wurde. Pamina wurde gefangen wie ein Vogel, und auch als solcher bezeichnet – „Du feines Täubchen, nur herein!“, sang ihr Häscher, Sarastros‘ Oberaufseher Monostatos.

Es sollte viele Jahre dauern, bis sich mir die Figur des Vogelfängers erschloss. Oft heißen die Straßen so wie die Orte, zu denen sie hinführen: Die Triester Straße weist Richtung Triest, die Brünner Straße nach Brünn, die Prager Straße nach Prag, und von Graz bis St. Pölten hat so mancher Ort seine Wiener Straße, die Richtung Hauptstadt führt. Die Lerchenfelder Straße aber hieß einst Kremser Straße. Und so wie die Straßen in langer Verlängerung irgendwann einmal nach Prag, Triest oder Krems führen, so können auch Bilder aus der Kindheit irgendwann einmal direkt in der Gegenwart ankommen: Papageno, der Vogelfänger, erklärte sich mir durch die Entdeckung des längst vergangenen und vergessenen Lerchenfelder Vogelmarktes. Hier wurden nicht Enten, Gänse und Hühner verkauft, sondern Singvögel, die man an den Hängen des Wienerwalds fing.

Heute gibt es in der Lerchenfelder Straße weder Lerchen noch ein Feld, also eine unverbaute Fläche. Doch wenn man in der Zeit zurückgeht, gewissermaßen bis zur Kremser Straße, die für das 14. Jahrhundert verbürgt ist, kommt man in ein Waldgebiet, in dem wohl schon Lerchen eingefangen wurden – einerseits, um sie gebraten oder in Pasteten samt Eingeweiden und Knochen zu verspeisen, andererseits, um sie als Gefangenenchor in den Stuben zu halten. Geblieben sind vier Vögel auf rotem Grund im Wappen von Altlerchenfeld, und drei über einem Baum fliegend in jenem von Neulerchenfeld. (Die Theorie, dass der Name auf einen Lärchenhain zurückgeht, scheint hingegen wenig plausibel, denn die Lärche ist ein Gebirgsbaum, der deutlich höhere Lagen bevorzugt.)

Wann der erste Wiener (das Fangen war ein Männersport) auf die Idee kam, einen Singvogel in einen winzigen Bauer zu stecken und quasi als lebenden Musikautomaten an die Wand zu hängen, lässt sich nicht mehr feststellen. Chronisten des 15. Jahrhunderts berichteten jedenfalls, dass aus den Fenstern der Wienerstadt so zahlreiche Vogelstimmen klangen, dass man sich vorkam, als ginge man durch den grünen Wald. Und so ging es jahrhundertelang. Laut einem Zeitungsbericht des Jahres 1870 war der beste Ort, um in Wien Nachtigallen zu hören, die Gegend rund um den Stephansdom. Im Wienerwald dagegen wurde es still.

Ob es sich bei der berühmten Wiener Vogelliebe tatsächlich um Liebe handelte, sei dahingestellt. Auch bei der Liebhaberei drehte es sich wohl eher ums Haben als ums Liebhaben. Die Tiere wurden einzeln in winzigen Folterkerkern gehalten, die nicht viel größer waren als sie selbst. Finken wurden mit glühendem Eisendraht geblendet, damit sie die Jahreszeiten nicht mehr unterscheiden konnten und in ihrer Verzweiflung immer sangen, als ob es Frühling wäre. So mancher Zeisig bekam einen Drahtring um den Leib und musste sich zum zusätzlichen Gaudium seine spärlich bemessene Nahrung mit einer Kette hochziehen. Mit Futter-, Wasser- und Lichtentzug erzwang man Gesang. Dass sie oft nicht lange überlebten und ständiger Nachschub benötigt wurde, verstand sich von selbst.

Wer die Vögel jedoch wirklich liebte, war Ignaz Castelli. Vielleicht lag es daran, dass er Schriftsteller war und von daher gewohnt, sich in andere hineinzudenken. Im März 1846 entdeckte er bei einem Spaziergang auf dem Glacis einen ängstlich piependen Vogel in einer Schlinge. Castelli versetzte sich in das Tier hinein, in seinen Körper, seine Lage, seine Gefühle. Er trieb ein Federkleid aus, wurde gefangengenommen und fürchtete sich. Halb Mensch, halb Vogel war er in seinem Herzen – anders als Papageno, der sich mit fremden Federn nur schmückte, um Reklame für seine gequälte Ware zu machen. Castelli befreite den Vogel – und gründete noch am selben Tag den Wiener Tierschutzverein.

Feld- oder Haubenlerchen sind in Wien und seinen Umgebungen selten geworden. Wenige haben sie je gehört, noch weniger haben sie gesehen. Tatsächlich gelten sie als massiv bedroht. Ewig konserviert sind sie jedoch in der Sprache – und nicht nur in den Straßennamen Lerchenfelder Straße, Lerchengasse, Lerchenfelder Gürtel oder Neulerchenfelder Straße. Im figurativen Diminutiv kommt die Lerche weiterhin häufig vor, als etwas sehr Kleines, Harmloses, Unschuldiges. In der Wendung „des is ka Lercherl“ wird ausgedrückt, dass etwas doch eine größere Sache sei als gedacht. „Da ist das ein Lercherl dagegen“ wiederum bedeutet, dass etwas oder jemand vergleichsweise gefährlich sei. Man könnte also sagen: „So a Steuererklärung is ka Lercherl“ oder: „Gegen den Menschen ist der Wolf a Lercherl.“ Das Allerunwichtigste auf Gottes Erdboden ist der Lercherlschas, also die de facto nicht vorhandene Flatulenz eines solchen Vögleins – die Bagatelle schlechthin.

Der jeden Sonntag stattfindende Lerchenfelder Vogelmarkt befand sich am Linienwall, etwa dort, wo die Grundsteingasse in den Gürtel mündet. Mit Leimruten, futterbestreuten Schlagfallen und rund um diese drapierten Käfigen mit (oft geblendeten) Lockvögeln wurde der Wienerwald als vermeintlich unerschöpflicher Selbstbedienungsladen leergeräumt. Nebstbei entnahm man ihm auch gewaltige Fuhren an Ameiseneiern, die als Nachtigallenfutter dienten. Um dem schon lange bestehenden und zahnlos gebliebenen Vogelschutzgesetz endlich mehr Geltung zu verschaffen, wurde der Markt im Februar 1886 schließlich verboten.

Die Abschaffung dieses Vergnügens tat der Bedeutung des „Lerchenfelds“ als Stätte ausgelassener Sonntagsheiterkeit keinen Abbruch. Wo dieses als Synonym für Ausflugslustbarkeiten stand, handelte es sich um eine Abkürzung für Neulerchenfeld, und das kam so: Der 1704 gegen die Kuruzzen errichtete Linienwall trennte das alte vom neuen Lerchenfeld, wobei letzteres lange Zeit ein unter der Grundherrschaft des Stiftes Klosterneuburg stehendes Dörfchen war. Die Kuruzzen kamen nie, was jedoch blieb, war der Linienwall als Stadtgrenze, hinter der (von außen betrachtet) ab 1829 die Verzehrungssteuer eingehoben wurde. In anderen Worten: In Altlerchenfeld war das Essen und Trinken erheblich teurer als in Neulerchenfeld. Dies führte dazu, dass die ab 1862 Altlerchenfelder Hauptstraße genannte heutige Lerchenfelderstraße jeden Sonntag dem Durchzug des vergnügungssüchtigen Volkes diente. Sie endete etwa an der heutigen Kaiserstraße, dann musste man nach Norden abbiegen (es heißt, dass es hier schon recht grün war und die Luft frischer wurde). Aus der Vorstadt in die Vororte hinaus kam man durch das Lerchenfelder Linientor, welches sich bei der heutigen Sanettystraße befand und durch das man in die Neulerchenfelder Straße kam. Noch immer erblickt man von dort jenseits des Gürtels das „Weinhaus Sittl – Zum Goldenen Pelikan“, einen letzten Rest des alten Neulerchenfelds.

Bis 1894, als man mit der Abtragung des Linienwalles begann, befand sich links vom Tor das Linienamt, rechts davon, von großen Linden umschattet, die Lerchenfelder Linienkapelle. Draußen gab es Heurige, Wirtshäuser mit weitläufigen Gastgärten, Tanzböden und Musik. Im Thaliatheater wurden Possen und Volksstücke aufgeführt, im Gasthaus „Zum Fassl“ wurde in einem eleganten Saal zum Tanz aufgespielt, der in ein riesiges Fass eingebaut war. Im Lerchenfeld fand man Kipfelverkäuferinnen, Schausteller, Karusselle, ein Wachsfigurenkabinett, Bänkelsängerinnen, Losverkäufer, Kegelbahnen, den Cirque français mit seinen Kunstreitern und das Wichtigste: Backhendln, Plunzen, Wein und Bier.

Es ließ sich wohl nicht vermeiden, dass in Wien so manche menschliche Sängerin den Ehrentitel „Lercherl“ erhielt oder sich selber gab. So hatte die 1849 geborene Volkssängerin Louise Montag (eigentlich: Aloisia Pintzker) den Spitznamen „Das Lercherl vom Michelbeuerngrund“, die 1887 geborene Operettensoubrette Betty Fischer nannte man „Das Lercherl von Hernals“.

Nicht nur die Königin der Nacht war eine Vogelliebhaberin, auch von realen Wienerinnen wird dies berichtet. So soll das Büro der Hotelchefin Anna Sacher voller Käfige mit zwitschernden Vögeln gewesen sein. Die Tänzerin Fanny Elßler reiste sogar mit ihren singenden Gefangenen nach Amerika und, ergänzt durch Neuzugänge aus Übersee, auch wieder retour. Erzählt wird dies von der Schriftstellerin und Journalistin Ann Tizia Leitich in dem 1939 erschienenen Buch Die Wienerin, in dem sie wie in etlichen anderen kulturgeschichtlichen Werken das alte Österreich aufarbeitete. Dabei bewahrte sie viele alltagsgeschichtliche, insbesondere die Frauen betreffende Besonderheiten, für die sich männliche Historiker wenig interessierten. Durch die Nazizeit lavierte sie sich mit Hilfe von so manchem deutschtümelnden Textbeitrag hindurch. Dabei war sie mit dem in Czernowitz geborenen jüdischen Schriftsteller und einstigen hohen Staatsbeamten Hofrat Dr. Erich von Korningen verheiratet. In einem bemerkenswert erfolgreichen Akt der Scheinanpassung ließ sich das Paar dann auch scheiden, lebte allerdings weiter zusammen – nach dem Ende des Dritten Reiches wurde die Scheidung annulliert. Korningen, der 1938 aus „rassischen“ Gründen zwangspensioniert worden war, hatte viel Zeit, um seine Frau bei ihren Recherchen zu unterstützen. Nach dem Krieg argumentierte Leitich, dass sie in ihren während der Nazi-Zeit geschriebenen Büchern „den Herzen mit österreichischer Atmosphäre Stärke-Injektionen gab“. Wohl hatte die populäre Autorin durch ihren Erfolg, der ohne das Auslassen spezifisch jüdischer Leistungen in ihren kulturgeschichtlichen Werken nicht möglich gewesen wäre, auch ihren Ehemann geschützt, der offenkundig unbehelligt blieb. Dass er diese Jahre mitten in Wien überlebte, ohne eigentlich versteckt zu sein, kommt einem Wunder gleich. Von 1938 bis zu Korningens Tod im Jahr 1975 lebte das Paar in der Lerchenfelder Straße 25. So schrieben sie während der sieben Jahre der Naziherrschaft in unmittelbarer Nähe des alten Vergnügungsviertels über österreichische Heiterkeiten – in Todesangst.


Bettina Balàka wurde in Salzburg geboren und lebt heute als freie Schriftstellerin in Wien. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Essays und mehr und erhielt für ihre Texte zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Salzburger Lyrikpreis, Österreich-1-Essay-Preis, Friedrich Schiedel-Literaturpreis, das Elias-Canetti-Stipendium und den Georg-Trakl-Förderungspreis für Lyrik. Zuletzt erschienen: Die Tauben von Brünn (Roman, Deuticke) 2019, Bettina Balàka über Eugenie Schwarzwald (Essay, Mandelbaum) 2020 sowie Dicke Biber – ein Umweltschutzkrimi (Kinderbuch, Leykam) 2021.
www.balaka.at

Das Foto zeigt Bettina Balàka im Café Hummel in der Josefstadt, Foto von Alain Barbero


Lerchenfeld, literarisch ist ein Projekt von artminutes in Kooperation mit der Lebendigen Lerchenfelder Straße.
Idee, Konzept & Projektleitung: Angela Heide/artminutes

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