Von Amir Gudarzi
Mit deinem Beginn beginnt auch ein neues Kapitel in meinem Leben. Wir befinden uns an deinem Anfang im Jahr 2009. Palais Auersperg. Ich bin seit paar Monaten in Österreich und fange an, schwarz in diesem Palais zu arbeiten. Ich hätte sehr gerne legal gearbeitet, aber Asylwerber dürfen nicht. Ich warte an deinem Anfang und bestaune deine Schönheit. Ich sehe dich und das Palais zum ersten Mal.
Es ist ein schöner Wintertag mit Sonne.
Ich habe einen dünnen Mantel an, der für den österreichischen Winter nicht gut geeignet ist. Im Palais werde ich von einer jungen Frau, der Managerin, nehme ich an, für einen Kunden gehalten. Sie fragt mich auf Englisch, ob ich das Palais anmieten möchte. Beschämt sage ich, dass ich zum Putzen da bin. (Von dem Iraner, der uns Flüchtlinge damals zum Palais brachte, hatten wir für eine Woche Putzen nie einen einzigen Cent bezahlt bekommen.)
In der Nacht davor wurde wild gefeiert. Überall im Palais liegen Scherben und Kotzflecken. Ich putze, sauge, wische und sammle den Müll ein. Meinen knurrend brennenden Magen spüre ich auch. Ein Fünf-Euro-Schein liegt am Boden, ich bin ganz aus dem Häuschen. In der Küche entdecke ich Wurst und Brot, die wir essen dürfen. Ich stopfe alles so wild in meinen Mund, dass ich fast ersticke.
Da ich als Einziger Englisch spreche, werde ich nach dem Putzen beauftragt, von 17 bis sechs Uhr früh während einer Feier die Toiletten sauber zu halten und Klopapier nachzulegen. Ich setze mich in eine winzige Kammer neben der Haupttreppe und lese mein einziges Buch, Also sprach Zarathustra. Bis Mitternacht gehe ich jede halbe Stunde in die Klos, säubere alles und lege Papierrollen nach. Alle Gäste tragen eine Maske, und es sieht auf der Feier wie im Film Eyes wide shut aus. Ich bin eingeschüchtert und mache die Tür der Kammer fast zu. Gegen zwei Uhr in der Früh kommt eine Frau zu mir und sagt etwas auf Deutsch. Ich sage auf Englisch, dass ich „nix“ verstanden habe. Sie nimmt mich an die Hand und zieht mich in die Toilette. Dort ziehen sich gerade ein paar Menschen Drogen in die Nase, und eine Frau fuchtelt mit einem Dildo vor meiner Nase. Ich muss die Kotze und den Kot wegräumen. Während ich putze, tut die Frau so, als würde ich mit dem Dildo penetriert werden.
Ich spaziere lieber weiter in dir, „meiner“ Lerchenfelder Straße.
Bei der Mechitaristengasse angekommen, frage ich mich: War das 25hours Hotel immer da? Nein, erst ab 2013.
Davor war hier ein Studentenheim.
Bei der Mechitaristengasse ist es 2010.
In diesem Jahr bin ich durch einen Zufall in eine WG in dieser Gasse eingezogen, wieder illegal. Der Blick aus meinem Fenster zeigte ein Stück der Lerchenfelder Straße, und ich erinnere mich an das Bild der fahrenden Straßenbahnen. Den ersten Winter in Wien habe ich hier erlebt, und den fallenden Schnee habe ich auch auf dich fallen gesehen. Eine dickere Jacke und Winterschuhe habe ich dann auch auf dir eingekauft. In diesem Militärgeschäft namens Jotex, Nummer 6. Es hat mich gerettet, dort günstige und warme Sachen kaufen zu können. Eingekauft habe ich damals auch im Hofer, einige Geschäfte weiter, auf Nummer 14. Als mein Asylantrag abgelehnt wurde und ich als Pizzazusteller arbeiten musste, hast du mich öfter beschenkt und glücklich gemacht. Für 12 Stunden Arbeit habe ich 50 Euro bekommen, aber auf deinem Asphalt fand ich einige 50er-Scheine.
Ecke Lange Gasse war das.
Auf dich fallen meine Bluttropfen nach meinem Motoradunfall beim Pizzazustellen. Ich gehe hinkend nach Hause, um von dort gleich ins Krankenhaus zu fahren. Das Taxi fährt durch dich. Ich nenne dich als Unfallort, als ich im Krankenhaus befragt werde – aber für einen Fahrradunfall, weil ich als Asylwerber Angst habe, die Wahrheit zu sagen.
Als ich 2011 nach 18 Monaten Warten endlich Asyl bekomme, schaue ich weinend vor Glück durch mein Fenster auf dich. Betrunken ziehe ich mit meinen Mitbewohner*innen, die inzwischen meine Freunde sind, durch dich, um zum ersten Mal das Gefühl des Ankommens und des Glücklichseins zu spüren.
Als ich den öffentlichen Durchgang gegenüber der Lange Gasse entdecke, bin ich voll kindlicher Freude. Die Schönheit dieses Durchgangs, bedeckt mit Trauben, bringt mich zurück in meine Kindheit.
Auf deinen Gehsteigen heule ich jedes Mal, wenn ich traurig bin. Auf deinem Asphalt liege ich, als ich die Nachricht von Esthers Tod bekomme, und wünsche mir, du würdest mich schlucken, in dir verbergen, verstecken, töten.
2012 muss ich schweren Herzens wegziehen. Aber ich bleibe dir treu.
2012 habe ich auch gelernt, dich zu hassen. Ich entdecke immer mehr Stolpersteine und eine zerstörte Synagoge. In der Neudeggergasse, falls du es gerne vergessen möchtest. Ich finde immer mehr heraus über die Grausamkeiten gegenüber Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit, die auch hier, in dir, ihre Spuren hinterlassen haben. Ich schreibe ein paar Jahre später ein Gedicht über die Synagoge, aus der Sicht der Synagoge. Magst du es lesen?
In mir befindet sich ein Garten.
Die Äpfel und Granatäpfel geschützt von der Sonne.
Sie wachsen nicht, sie sind schon voll gereift an meine Wände gemalt.
Eine Gruppe Menschen nähert sich meinen Mauern.
Durch meine Fenster wird der Sonnenschein farbig. Rot, blau, grün und gelb.
Ein Mensch nimmt den ersten Stein.
Meine Ornamente ähneln dem Paradies. Ich beherberge das Paradies in mir.
Der Mensch wirft den ersten Stein. Jubel.
Die farbigen Fenster werden farblos.
Die Ornamente liegen nackt in der Sonne. Keine rote, blaue, grüne und gelbe Farbe mehr.
Ein zweiter Stein, Mensch, wirft, ein dritter und vierter. Jubel.
Ein fünfter Stein, er wirft, ein sechster und siebter. Jubel.
Meine Fenster brechen widerstandlos. Die Mauern leisten Widerstand.
Ein achter Stein, Mensch, wirft, ein neunter und zehnter. Jubel.
Mit Jubel verbrauchen sie ihre Steine.
Die Mauer wird von Hämmern betastet.
Mein Garten wird betreten. Ich brenne. Mein Garten brennt.
Jeder einzelne Granatapfel beginnt zu brennen. Jubel.
Ist das nicht komisch, dass du eine Gasse weiter Burschenschafter beherbergst? In diesem Haus in der Piaristengasse im Roten Hof? Mich haben sie auch einmal beschimpft und ich sie. Somit sind wir quitt, falls du mich rächen willst, meine Lerchenfelder Straße.
Gleich ums Eck habe ich manchmal Bücher gekauft, um besser Deutsch zu lernen.
2021 ist das Buchgeschäft weg.
Bleiben wir im Jahr 2012. Auf Nummer 33 bin ich immer mit meinem Mitbewohner. Er hört Platten, die er kaufen will, und ich suche Namen von Bands, die ich kennen könnte. Daneben auf Nummer 35 sehe ich immer Menschen Schlange stehen. Was ist da drinnen? Weißt du das? Oben steht Ytd Club. War nicht früher das Phönix Kino hier?
2012 habe ich zum ersten Mal auf dich gekotzt. Entschuldige tausendmal dafür. Aber schuld daran ist in Wahrheit das Shebeen, weil sie immer eine Bier-Happy-Hour haben, und ich muss genauso viel trinken wie die anderen, damit ich nicht auffalle – oder eher, um mich integriert zu geben. Weißt du es noch? Nummer 45.
Im gleichen Jahr habe ich auf deinem Asphalt und deinen Gehsteigen gelernt, dass man die Deutschen nicht mögen soll. Dass man sie beschimpfen, bleidigen soll. Damals spielte ihre Mannschaft in Polen bei der Europameisterschaft, und wir gingen an deinen Lokalen vorbei. Überall haben Deutsche geschrien – Und meine Mitbewohnerin schimpft wütend entgegen.
„Piefke“ und „Marmeladinger“ habe ich auch auf deinem Asphalt gelernt, dank deiner Großzügigkeit.
2013 sehe ich meine Eltern nach vier Jahren wieder. Sie essen ihr erstes Eis auf dir, Nummer 34. Sie sind unweit von dir untergebracht und flanieren gerne auf dir.
Wie es mir inzwischen geht?
Ein bisschen besser.
Meine Depression wird langsam besser.
Weißt du, dass ich zu studieren begonnen habe?
Meine Ex-Mitbewohnerin ist schwanger. Ich kaufe Spielzeug bei dir, an der Ecke zur Strozzigasse. Das Spielwarengeschäft wird in ein paar Jahren schließen, aber noch wissen wir es nicht. Ist das nicht Nummer 40?
Wir gehen weiter. Nummer 46. Im welchem Jahr sind wir? 2013 oder 2014? Kann ich nicht genau sagen, aber es ist das beste vietnamesische Essen, das ich da esse. Keine Werbung erlaubt? Entschuldige, dann lösche ich es wieder.
Nummer 59. Beim Vorbeigehen am Erotik-Markt staune ich immer. Von Anfang an.
Ich gehe weiter zu Nummer 68−66, das Fischrestaurant Konoba. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeigehen, rieche und sehe ich die Gerichte, die geil aussehen. Leisten kann ich mir die noch immer nicht. Das soll sich ein paar Jahre später ändern, aber natürlich weiß ich das auch noch nicht zu diesem Zeitpunkt.
Ein paar Schritte weiter habe ich mich zum ersten Mal in einen Hund verliebt. Clara ist ihr Name, und sie ist die eigentliche Besitzerin des japanischen Restaurants. Es ist 2018, als ich hier zum ersten Mal eine Suppe esse. Danach bin ich, um ehrlich zu sein, nur für Clara zurückgekommen. Um den kleinen, ein bisschen zu dicken Hund zu streicheln.
Fast alle deine Pflastersteine, Gassen und Geschäfte rufen Gefühle und Erinnerungen bei mir wach.
Du bist das Zentrum meines Ankommens in Wien.
Beim Gürtel angekommen ist es 2021, und ich muss nach Hause fahren. Wohin genau? Das weißt du doch eh.
Amir Gudarzi wurde 1986 während des Iran-Irak-Krieges im Iran geboren. Er graduierte an der damals einzigen Theaterschule des Landes und absolvierte anschließend ein Studium in szenischem Schreiben in Teheran. Aufgrund der Zensur konnten seine Stücke nur in privaten Kreisen gezeigt werden; daneben schrieb er Drehbücher für Fernsehen und Spielfilme. Seit 2009 lebt Gudarzi unfreiwillig im Exil in Wien, wo er das Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft abschloss. 2017 gewann Amir Gudarzi den exil-DramatikerInnenpreis für sein Stück Zwischen uns und denen liegt … 2018 war er für das Hans-Gratzer Stipendium des Schauspielhaus Wien nominiert. Stücke u. a.: Arash // Heimkehrer (UA 2018, Theater Drachengasse), The Knowledge Tree, Die Burg der Assassinen (Stückemarkt des Berliner Theatertreffens, 2019), Geleemann (UA 2020, Werk-X Petersplatz), Who cut the cake (UA 2020, Royal Court Theatre London). Wonderwomb (2020, nominiert für den Retzhofer Dramapreis), Komposition in Rot (UA 2020, Volksbühne Halle), Am Anfang war die Waffe (UA 2022 in Wien). Zahlreiche Preise, Stipendien und internationale Residenzen, u. a. Dramatiker*innen-Stipendium des österreichischen Bundeskanzleramtes (2018, 2019, 2020), des Literarischen Colloquiums Berlin (2020/2021) und der Literar-Mechana (2021); Förderungspreis der Stadt Wien (2021). Amir Gudarzi lebt in Wien und arbeitet derzeit an seinem Debütroman, der 2023 bei dtv erscheinen wird.
Lerchenfeld, literarisch ist ein Projekt von artminutes in Kooperation mit der Lebendigen Lerchenfelder Straße.
Idee, Konzept & Projektleitung: Angela Heide/artminutes