Lerchenfeld, literarisch: Schokolade-Zitrone war einmal (Text)

Von Alexia Weiss

Jedes Mal, wenn ich heute mit dem 46er durch die Lerchenfelder Straße fahre und auf dem Haus Nummer 82, Ecke Lerchengasse, die Aufschrift „rohr san“ („rohr“ in blau, „san“ in rot) lese, gibt es mir einen Stich. An dieser Straßenecke sollte kein Installateur sein, sondern ein Eisgeschäft. „Riva“ hieß der italienische Eissalon, in dem meine Mutter mit mir und meinem Bruder an jedem letzten Schultag vor den Sommerferien zum Zeugniseisessen ging. In den Volksschuljahren war es jedenfalls so und auch noch in den ersten Klassen der Gymnasiumsunterstufe.

Jedes Mal studierte ich dann die Karte von vorne nach hinten und von hinten nach vorne, um am Ende doch erst wieder einen Bananensplit zu bestellen. „Aber mit Schokoladeeis statt mit Vanilleeis und ohne Schlag, bitte!“ Manche Dinge ändern sich wohl nie. Die Aber-mit-ohne-statt-bitte-Bestellungen sind heute für mich so selbstverständlich, dass ich nur im Spiegel von Menschen, mit denen ich nicht so oft auswärts essen gehe, ab und zu wieder mitbekomme, dass das offenbar nicht allgemein üblich ist.

Was ich ebenfalls bis heute beibehalten habe: Wenn ich ein Eis essen gehe, entscheide ich mich für Schokolade und Zitrone. Gibt es eine der beiden Sorten nicht, will ich gar keines mehr essen. Schokolade und Zitrone, so muss es sein. „Schokolade und Zitrone“, sagte ich auch die vielen, vielen Male, wenn wir am Wochenende nach einem Ausflug, nach dem Besuch im Bad oder einfach nur einem Spaziergang in der Innenstadt als Familie kurz „beim Riva“ Halt machten. Und dann saßen wir zu viert im Auto, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich, und schleckten bei geöffneten Fenstern und auf der Gehsteigseite manchmal auch geöffneten Türen unser Eis.

Im Gymnasium holte ich mir auch auf dem Schulweg nach Hause immer wieder einen süßen Becher (von der Volksschule wurde ich mittags mit dem Auto abgeholt). Der Schulweg nämlich, der brachte mich meine ganze Kindheit und Jugend über in und durch die Lerchenfelder Straße. Die Volksschule – Notre Dame de Sion – war in der Burggasse im siebenten Bezirk beheimatet, das Gymnasium – BGVIII, Piaristengymnasium – am Maria-Treu-Platz im achten Bezirk. Die Lerchenfelder Straße liegt genau in der Mitte, sie gehört auf der einen Seite zu Neubau, auf der anderen zur Josefstadt.

Ich wuchs allerdings in Ottakring auf, in einer Seitengasse der Thaliastraße, wo meine Eltern in den 1970er-Jahren in einem damals neu gebauten Haus eine Eigentumswohnung gekauft hatten. Diese Wohnungen versprachen modernen Wohnstandard, den sie teils hielten, teils nicht. Ich erinnere mich an Schreiorgien von Nachbarn, die andere Parteien über die Lüftungsschächte in Badezimmer und Toilette live mitverfolgen konnten. Ich erinnere mich an Nachbarschaftsstreitigkeiten wegen Klavierspiels, durch die Wohnungen laufende Kinder, Hundebellen.

Die Thaliastraße und die Lerchenfelder Straße sind im Grund ein langer Straßenzug, der aber durch den Gürtel einen Cut erfährt. Der machte sich damals und macht sich heute nicht nur durch den anderen Namen bemerkbar. Auf der Lerchenfelder Straße standen die schöneren, eleganteren Häuser. Und dennoch lud sie nicht unbedingt zum Schaufensterbummeln ein. Durch die Lerchenfelder Straße fuhr ich mit der Straßenbahn und ging manchmal, wenn das Wetter schön war, auch zu Fuß, weil – genau – das Eis beim Riva wieder einmal zu verlockend war. Oder weil ich mich mit Schulfreundinnen verplaudert hatte, die in der Lerchenfelder Straße wohnten.

Die Thaliastraße dagegen war bunter, lauter, mit vielen Geschäften, die es heute dort nicht mehr gibt, die aber stets einluden, vor den Schaufenstern stehenzubleiben, wie ein Schöps, ein Fürnkranz, ein großer Humanic. Und an der 46er-Haltestelle Haberlgasse gab es eine Drogerie mit bunten Haarspangen in einer Auslage. Sofort habe ich wieder meine heiß geliebten Erdbeerspangerl vor Augen. An diese habe ich mich auch oft erinnert, als meine Tochter ein Kindergarten- und Volksschulkind war. Solche Spangerl kauft man heute im Vorbeigehen bei jedem H&M oder C&A, meist sind dann in einer Packung gleich vier oder sechs Stück, und über die Jahre sammeln sich Dutzende, wenn nicht gar über 100 solcher Klips an. Damals gab es zwei rote Erdbeerspangerl, die ich jeden Tag aufs Neue gerne in die Haare klemmte und so lange trug, bis sich der bunte Lack vom Metall löste.

Diese Sehnsucht, mit der wir Kinder der 1970er- und 1980er-Jahre auf scheinbar Unerreichbares in Geschäftsauslagen schielten, ist, so empfinde ich es jedenfalls, ein Gefühl, das unsere Kinder heute kaum kennen. Und das hat weniger mit ihnen zu tun als mit uns. Wir Eltern erfüllen den Kindern sofort jeden Wunsch, auch das ein Teil des Überflussproblems, das uns alle in die Klimakrise gestürzt hat, die viele noch gar nicht sehen wollen.

Obwohl die Thaliastraße also schon früher die buntere, quirligere Straße war, die zum Einkaufen einlud, gab es auch in der Lerchenfelder Straße das eine oder andere interessante Geschäft. Und eines davon war bei „meiner“ anderen 46er-Haltestelle, die sich Ecke Strozzigasse befand: eine Spielwarenhandlung. Jeden Tag aufs Neue begutachtete ich die Auslagen, niemals traute ich mich hineinzugehen. Schnell glitt dann immer der Blick zwischen Schaufenster und Lerchenfelder Straße hinab Richtung Bellaria hin und her, um nur ja nicht die Straßenbahn zu verpassen.

Dieses Warten, wann sich denn die Straßenbahn endlich daher schlängelt, ist ein weiteres Kindheitsgefühl. Warum Gefühl? Wenn die Schule aus war, wartete zu Hause meine Mutter, und wenn ich da zu lange herumtrödelte, machte sie sich Sorgen (was mir heute verständlich ist, was ich damals aber natürlich als furchtbar lästig empfand). Elektronische Anzeigen, wann die nächste Garnitur kommt oder ob es gerade eine Störung gibt, waren damals noch Zukunftsmusik. So blieb nur das Starren in Richtung Stadt, das Warten, manchmal das leise Zählen. „Wenn ich bis 100 gezählt habe, und sie ist immer noch nicht da, dann sollte ich vielleicht zu Hause anrufen, um Bescheid zu geben, dass es offenbar irgendwo auf der 46er-Strecke ein Problem gibt.“

Das allerdings führte zu einem weiteren Problem: Die Telefonzelle befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Man lief also Gefahr, so erst recht die Tram zu verpassen. Und so war es ein ständiges Auf-die-Uhr-Schauen: Wie viele Minuten warte ich noch ab und wann laufe ich doch hinüber, um anzurufen?

Es sind vor allem Erinnerungen an solche Momente, die so klar verdeutlichen, wie sehr sich die Welt seitdem verändert hat. Heute wissen viele Eltern via App, wo sich ihre Kinder genau befinden. Oder aber die Kinder geben rasch via WhatsApp Bescheid, wenn die U-Bahn eine Störung hat oder sie sich vertrödelt haben. Das sind die vordergründigen Veränderungen.

Die, über die ich mir zuletzt immer stärker Gedanken mache, sind andere: Es waren solche Situationen, in denen man sich Dinge wünschte, aber nicht einmal gegenüber den Eltern zu formulieren wagte, dies zu tun, oder in denen man überlegte, warten oder hinüber zur Telefonzelle zu laufen, in denen so eine Art innerer Diskurs ablief. Und ich frage mich, ob die Kids von heute, die via Smartphone sofort jemanden erreichen können, diese Art der inneren Zwiesprache überhaupt noch führen. Ist das gut? Ist das schlecht? Es ist anders.

Die Lerchenfelder Straße hat sich auch verändert, aber gefühlt ist sie dieselbe geblieben. Ein ruhiger Straßenzug, in dem sich damals und heute einzelne Schmuckkästchen fanden und finden. Was mich heute in die Lerchenfelder Straße führt? Die Weltapotheke, die als einzige Wiener Apotheke selbst hergestellte natürliche Schilddrüsenhormone führt. Und das Schlipf & Co an der Ecke zur Albertgasse, in dem es wunderbare handgemachte gefüllte Teigtaschen gibt, mit so kreativen und delikaten Sorten wie den Hummus-Nudeln, den Steinpilz-Nudeln und den Spinat-Knoblauch-Nudeln. Und ja, irgendwie geht die Lerchenfelder Straße durch den Magen. Das Besondere des „original italienischen Eissalons“ ist heute dem Besonderen einer Nudelmanufaktur gewichen. Aber das kann sie, diese Straße: Sie mag nicht bunt, nicht schräg, nicht laut sein. Aber sie bot und bietet feine Ecken und Nischen.


Alexia Weiss wurde 1971 geboren und ist in Wien aufgewachsen. Sie studierte Germanistik und absolvierte eine Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 ist sie journalistisch tätig, u. a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Aktuell schreibt sie für verschiedene Medien, dabei vor allem für die jüdische Stadtzeitung WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie KOMPETENZ und ARBEIT&WIRTSCHAFT. Das neueste Buch der Journalistin und Autorin, Zerschlagt das Schulsystem, erscheint Ende August 2022 im Verlag Kremayr & Scheriau.

Foto: © Stanislav Jenis, 2014


Lerchenfeld, literarisch ist ein Projekt von artminutes in Kooperation mit der Lebendigen Lerchenfelder Straße.
Idee, Konzept & Projektleitung: Angela Heide/artminutes

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