Und es gab sie doch: Kinos in (West)Neubau

Ein Blick hinter die Fassaden der vergessenen Kino-Orte rund um das Lerchenfeld

Wien war einmal eine Kinostadt. Das klingt eigentlich schon fast so kitschig und so unglaubwürdig wie „Wien war einmal eine Kaiserstadt“. Beides ist lange her, und von beidem ist eigentlich nur der Mythos geblieben. Im Falle der Kaiserstadt sind noch zahlreiche architektonische, städtebauliche und kulturhistorische Relikte zu sehen; im Falle der Kinostadt ist das schon einigermaßen schwerer. Denn eine der Besonderheiten der Kinostadt Wien war, dass die große Mehrzahl der Kinos nicht in eigenständigen Bauten – wie es etwa das nicht mehr erhaltene das Busch Kino (2.), der Sascha Filmpalast (3.) oder „die Scala“ waren – zu finden war, sondern sich förmlich durch die Wiener Stadtarchitektur durchschlängelten, manchmal sichtbarer, manchmal auch kaum wahrnehmbar: als Eck- und Schlauchkinos, als Souterrain- und Kellerkinos, als Hof-, ja sogar Gartenkinos. In der Zieglergasse 29 befand sind die Firma Friedl-Chaloupka, wo ab 1932 Kinoprojektoren für ganz Österreich hergestellt wurden.

Und Neubau war einer „der“ Wiener Kinobezirke – hier fanden sich die meisten Filmverleihanstalten (von denen fast 90 Prozent in jüdischem Besitz standen und 1938 für immer ausgelöscht wurden); hier befand sind die Firma Friedl-Chaloupka, die ab 1932 Kinoprojektoren für ganz Österreich herstellte (Zieglergasse 29); und hier waren die schicksten Kinocafés, wie das Café Filmhof oder das Café Elsahof, beide in der Neubaugasse 36 bzw. 25.

Der Elsahof war 1911 vom Wiener Architekten Hans Prutscher errichtet worden – und wie auch beim zwei Jahre später errichteten Miethaus mit Kinosaal in der Lerchenfelder Straße 35 konzipierte Prutscher das Gebäude in der Neubaugasse als frühen „multifunktionalen“ Ort, an dem gelebt, gearbeitet und ausgegangen wurden. Für die Lerchenfelder Straße und das heute ebenfalls nicht mehr existierende Phönix Kino plante Prutscher – der schließlich noch ein Kino realisierte, das vielen Wiener*innen späterer Generationen ans Herz gewachsen ist: das Opern Kino, zuletzt das Wiener „Kinderkino“ (und damit Nachfolger eines weiteren Neubauer Kinos, das heute ein Theater ist: des Kosmos Kinos auf dem Siebensternplatz) – eines der damals ersten, überaus luxuriös ausgestalteten Wiener Souterrainkinos mit Balkonen, Logen und einem wunderbaren Entrée – von dem heute nichts mehr zu erkennen ist außer der Front des auch sonst aus dem Gesamtensemble der Straße hervorstechenden Art-Deco-Gebäudes. 1976, mitten in der ersten Welle des „Wiener Kinosterbens“ musste das Phönix schließen.

Auch andere einst beliebte Neubauer Kinos, wie das Neubauer Kino auf der Lerchenfelder Straße 75 oder das Invaliden Kino auf der Lerchenfelder Straße 143−145, schlossen in diesen Jahren, in denen selbst die Umstellung auf „Sexkinobetrieb“ die meisten Kinos nicht mehr am Leben halten konnte. Andere, wie das Admiral Kino (bis heute), Bellaria Kino (bis 2020) oder das Amerikan Kino (bis 1997), konnten sich mit sehr unterschiedlichen, immer aber kreativen Konzepten noch länger halten: So galt das „Amerikan“, das zuletzt Star Kino hieß, mit einem Art-House-Film-Programm halten, das zu den frühesten seiner Art in Wien zählte. Und das „Bellaria“, das Ende 2020 für immer schloss, machte mit seinem Konzept, Filmschlager mit Publikumslieblingen der Vor- und Nachkriegszeit zu zeigen, weit über die Grenzen Neubaus Furore. Auch das einstige Neubauer Kino hatte später als Action Kino zu den Pionieren einer Neukonzeptionierung von Kino-Kunst in Wien zählen.

Doch ob Action, Art House oder Filmstars – die meisten Kinos waren spätestens mit der Ankunft der plüschigen Kinosaalpaläste gezwungen, mit ihren harten Bänken, kleinen Leinwänden und über Jahrzehnte aufgebauten sehr individuellen Charakteren von ihrem (Stamm-)Publikum Abschied nehmen. Einzig das 1913 in der Burggasse 119 von einer der vielen Wiener Kinopionierinnen, Emilie Sperl, ins Leben gerufene klassische Eck-Schlauch-Grätzelkino „Admiral“ besteht bis heute – erneut unter weiblicher Leitung. Und hoffentlich noch lange.

Wie viele Wiener Kinos war auch das Admiral Kino 1938 in jüdischem Besitz – die damaligen Eigentümer, das Ehepaar Ebner, konnte nach England fliehen und überlebte. Ähnlich erging es auch dem damaligen Besitzer des Schottenfeld Kinos in der Schottenfeldgasse 22, Leo Wald, den Eigentümern des Schäffer Kinos auf der Mariahilfer Straße 37 oder Irma Kohn vom Erika Kino in der Kaiserstraße 44, das ab 1938 zum Uhu Kino wurde und seit 20 Jahren die dritte Wiener Heimat des Theaters Spielraum ist. Und auch die Eigentümer des populären Maria-Theresien-Kinos an der Ecke Mariahilfer Straße und Neubaugasse, das im 1914 von keinem Geringeren als Adolf Loos geplanten Haus seine Heimat gefunden hatte und 1918/1919 von Stefan Fayans gestaltet wurde, verloren 1938 ihren Besitz. Stefan Fayans kam, wie viele andere Wiener Kinopionier*innen, in der Schoah auf grausame Weise um.

Es sind diese und so viele weitere Geschichten, die die einstigen Wiener und Neubauer Kinoorte erzählen – auch wenn man die wenigsten von ihnen heute noch im Stadtbild wahrnimmt. Gedenksteine, wie die „Steine der Erinnerung“, von denen sich eine Reihe in der Neubaugasse finden, gibt es nur wenige, die heute an die verlorene Wiener Kinostadt und ihre „Macher*innen“ erinnern. Eine Exkursion, ob virtuell oder von Expert*innen begleitet, an die verlorenen Orte der Film- und Kinopionier*innen ab 1900 lohnt sich also.

TIPPS & LINKS

Führungen durch die Neubauer Kinogeschichten bietet SYNEMA − Gesellschaft für Film und Medien, deren Adresse sich schon allein in die faszinierende Kinogeschichte des Bezirks einreiht: Neubaugasse 36.
www.synema.at

Ebenfalls bietet die langjährige Leiterin des Forschungs- und Internetprojektes Wiener Kino- und Theatertopografie, Angela Heide, Führungen an die einstigen Kinoorte Wiens an. www.kinthetop.at
Wer sich für einzelne Kinos interessiert, dem sei zudem die Datenbank Wien Geschichte Wiki des Wiener Stadt- und Landesarchivs empfohlen.
www.geschichtewiki.wien.gv.at

Die Großausstellung KINO WELT WIEN im Wiener Metro Kino wurde bis 9. Jänner 2022 verlängert.

Wer sich für Erinnerungsorte an ermordete jüdische Bewohner*innen interessiert, dem sei auf das Projekt Steine der Erinnerung verwiesen, das sich auch sehr über Eigeninitiativen für neue Gedenksteine freut.
steinedererinnerung.net

Und manche „Kinos“ – wie das heutige Theater Spielraum oder das Admiral Kino – bieten auch auf ihren eigenen Webseiten unglaublich spannende und akribisch recherchierte Einblicke in die Geschichte der Orte:
admiralkino.at/kino
www.theaterspielraum.at (Onlineausgabe des vergriffenen Sonderheftes Aus Uhu wird Erika − Trotzdem Theater).

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